Sie treten allein, mit Hund oder in Gruppen auf, tragen Anzug, Kittelschürze oder manchmal auch nur ein Feinripp-Unterhemd. Ob unter der Dusche, im Badeanzug oder mit Lockenwicklern unter der Trockenhaube: Immer jedoch zaubern die „Alltagsmenschen“ von Christel Lechner ein Lächeln auf viele Gesichter.
Das gelebte Leben ist es, das die Wittener Künstlerin interessiert, und dabei sind es insbesondere die kleinen Momente des Alltags. Dafür nimmt sie ihre Mitmenschen mitunter genau in den Blick: „Manchmal sieht man besondere Typen und weiß sofort: Das ist authentisch!“ erklärt sie die Faszination ihrer Suche nach Augenblicken. Für solche Studien am Objekt hat sie in der Vergangenheit manches Mal auch Kritik ihrer heute längst erwachsenen Töchter einstecken müssen („Mama, starr doch die Leute nicht so an!“), und gelegentlich kam ihr auch der Zufall zur Hilfe: Etwa dann, wenn sie in einer Silvesternacht festlich gekleidete Menschen am Nachbartisch beobachten konnte. Mit Papierhütchen auf dem Kopf begrüßten sie fröhlich das neue Jahr – und Monate später war dank dieser unverhofften Inspiration die neunköpfige Gruppe „Der Ernst des Lebens“ vollendet. Die Künstlerin lässt ihre Skulpturen eine heitere Polonaise tanzen oder den freien Stuhl suchen bei der „Reise nach Jerusalem“, platziert sie wohlig genießend auf Luftmatratzen oder zufrieden lächelnd auf Parkbänken. Ihre „Alltagsmenschen“ haben schon die gesamte Republik bereist, das Märkische Viertel und den Potsdamer Platz in Berlin besucht, waren in den Niederlanden zu Gast und auf der Art Karlsruhe. In ihrer Heimatstadt Witten kennt sie ohnehin jedes Kind – „mittlerweile sind sie in die heiligen Museumshallen eingezogen, besetzen die Innenstädte, bewohnen Parkflächen und Bürgersteige, erklimmen Dächer“ betonte Wolfgang Zemter, ehemaliger Direktor des dortigen Märkischen Museums.
Am Anfang stand die Keramik: Christel Lechners künstlerischer Werdegang begann mit einer Ausbildung zur Keramikerin in der Keramikschule Landshut und der Gesellenprüfung an der Werkkunstschule Münster, fünf Jahre später folgte die Meisterprüfung. Ihr gefielen die Arbeit an der Töpferscheibe und der Umgang mit dem Material Ton, und so bestimmte die Gefäßkeramik ihre ersten Jahre im Beruf. Verheiratet mit Peter Lechner, der als Keramiker die elterliche Werkstatt übernommen hatte, konnte sie im eigenen Atelier ihre Berufung ideal mit der Familie verbinden – mit Mitte Zwanzig war sie Mutter der beiden Töchter. Sie bekam Lehraufträge am Musischen Zentrum der Ruhr-Universität Bochum, arbeitete mit den Studenten, gab Kurse und bildete sich weiter.
Stillstand ist Christel Lechners Sache nicht – und mit 40 Jahren stellte sie nicht nur im Privatleben, sondern auch beruflich die Zeichen auf Neubeginn. Groß sollten ihre zukünftigen Objekte sein, widerstandsfähig, und nachdem ihr Meisterstück, ein riesiger Lebensbaum aus Ton, plötzlichem Frost zum Opfer gefallen war, auch unbedingt witterungsbeständig. „Durch meinen Mann bin ich zum Werkstoff Beton gekommen“, erinnert sie sich, „er entwickelte zu jener Zeit ein neues Kachelofen-Projekt, für das Beton verwendet wurde.“ Heute arbeitet sie mit einem Beton, der gleichermaßen hitzebeständig wie frostfest ist. Mit dem Material kamen auch die Skulpturen – zuerst waren es Tiere, die Christel Lechner formte, dann wandte sie sich ihren teils überlebensgroßen „Alltagsmenschen“ zu.
Sie will die Menschen berühren, aber auch versöhnen mit einem Leben, das Höhen und Tiefen gleichermaßen bereithält.
Seither ist Beton ihr bevorzugtes Material – tonnenschwer und in ihren Werken trotzdem von einer Leichtigkeit, die nur spielerisch scheint und tatsächlich das Ergebnis detaillierter Studien und kalkulierter Ausführung ist. In ihrem malerisch im Grünen gelegenen Atelier auf dem Lechnerhof, ihrem Lebens- und Arbeitsmittelpunkt, skizziert Christel Lechner ihre Ideen, bevor sie in kleinem Maßstab zunächst Modelle aus ungebranntem Ton anfertigt. Sie studiert die Wirkung, ändert Haltungen, setzt den Schwerpunkt in Dynamik oder Ruhe. „Inszenierungen“ nennt sie ihre Skulpturengruppen, die seit dem Jahr 2000 den Schwerpunkt ihrer Arbeit bilden, und tatsächlich haben Ihre Arrangements viel mit Bühne und Film gemein: Sie sind für ein Publikum konzipiert, wirken zwar ohne Worte, sprechen aber durch Haltung und Aussage den Betrachter unmittelbar an, lassen seine Sinneseindrücke mit der eigenen Gedankenwelt verschmelzen. Sie will die Menschen berühren, aber auch versöhnen mit einem Leben, das Höhen und Tiefen gleichermaßen bereithält. Dabei geht es ihr insbesondere um den emotionalen und direkten Zugang zur Kunst.
Über zwei Jahrzehnte hat Christel Lechner ihre Technik immer mehr verfeinert, hat ausprobiert, verworfen, neu gefunden, weiterentwickelt. Wirkten die ersten Skulpturen noch vergleichsweise statisch, so zeichnet die „Alltagsmenschen“ eine bemerkenswerte Lebendigkeit aus, die nicht nur Resultat äußerer Körperbewegung ist: „Die Haltung ist auch Ausdruck einer inneren Bewegtheit und Gemütsverfassung.“ Nicht nur ihre runden Formen, die bodenständig-stämmigen Figuren und besonderen Physiognomien machen die „Alltagsmenschen“ zu Sympathieträgern: Baumelnde Beine zeugen von Entspannung und Lebensfreude, das Zurücklehnen von Stolz und Zufriedenheit, das Lächeln von Präsenz im Hier und Jetzt. Eher selten streben sie nach idealer Schönheit und Glamour – mit Modelmaßen und faltenfreiem Teint glänzen die wenigsten. „Gesichter, die eine Geschichte erzählen, sind viel spannender“, betont die Künstlerin. Und so mag der Betrachter in ihnen Spuren der Vergangenheit ebenso finden wie eine Heiterkeit, die das Leben eher amüsiert betrachtet.
„Beton fühlt sich anders an, ist anders formbar.“
Vor allem die Körperhaltung trägt dazu bei, und hier sind anatomische Vorstudien wichtig. Das Tonmodell wird oftmals wieder und wieder korrigiert, bis alles stimmig ist. Dann schneiden Christel Lechner und ihre Mitarbeiter einen Skulpturenkern aus leichtem Kunststoff, ändern, erneuern und ergänzen. Erst dann wird das Trägermaterial mit einer großzügigen Schicht Beton versehen und der Kopf darauf modelliert – ein Nachbessern ist nicht möglich. Überhaupt, der Gegensatz zwischen Ton und Beton ist für die Künstlerin buchstäblich greifbar: „Ton ist eine leicht modellierbare Masse, die man immer wieder korrigieren kann“, erklärt die Künstlerin, „Beton fühlt sich anders an, ist anders formbar.“ Die richtige Konsistenz spielt eine entscheidende Rolle: Die Masse muss sich noch gut mit der Kelle verstreichen und mit Werkzeugen in den Details bearbeiten lassen. „Und Handschuhe müssen bei der Arbeit auf jeden Fall sein.“
Nach dem vollständigen Aushärten geht es an die farbige Fassung der Figuren. Bis zum idealen Material sei es auch hier mitunter ein steiniger Weg gewesen, betont Christel Lechner. War es anfänglich Acrylfarbe, die den Skulpturen Glanz verlieh, so ist das Material der Wahl heute eine fein geriebene Silikatkreide. Sie wird aufgetragen und fein mit dem Quast vertrieben. Gerade die pastelligen Töne, die matte Pudrigkeit im Auftrag und die zurückhaltende Farbigkeit machen für die Künstlerin den besonderen Reiz aus. Die Muster der Kleidung, die der Künstlerin oft schon beim ersten Entwurf vorschweben – Blumen auf der Kittelschürze, Karos im Jackett oder Nadelstreifen im Anzug – werden nachträglich in Acrylfarbe aufgebracht. Die Kreidemischung und ihre Farbanteile werden mit Blick in die Zukunft fein säuberlich dokumentiert: „So haben wir immer den richtigen Farbton parat – sei es zum Nachbessern bei Beschädigungen, sei es, wenn eine Figur wegen Verwitterung neu farbig gefasst werden muss.“ Das Farbmaterial durchläuft wie alle natürlichen Materialien einen Alterungsprozess. Wenn es nötig ist, können die Kreidemischungen in kleinen Töpfchen auf die Reise gehen – entweder mit dem Team oder zu einem Maler vor Ort, der genau von Christel Lechner instruiert wird.
Das Team rund um Christel Lechner ist mit allen Arbeitsgängen vertraut, wenngleich jeder sein Spezialgebiet hat. Bei großen Aufträgen oder vielköpfigen Neuinszenierungen arbeitet die Künstlerin zuweilen mit einer überregionalen Crew. „An der Polonaise haben wir ein Jahr lang gearbeitet“, erinnert sie sich. Zahllose Skulpturen hat Christel Lechner seit den Anfängen wortwörtlich auf die Beine gestellt und sie mit ihrem Team zu ihren neuen Standorten etwa in Deutschland, Belgien, Frankreich, Österreich, Italien und in den Niederlanden begleitet: Transport und Aufstellung anderen zu überlassen, käme der Künstlerin nicht in den Sinn. Speziell entwickelte Transportvorrichtungen erleichtern die Handhabung der bis zu 120 Kilogramm schweren Skulpturen – doch wenn ein „Alltagsmensch“ etwa auf einem Dach Platz finden soll, kommt auch schon mal die örtliche Feuerwehr zur Hilfe.
Christel Lechners „Alltagsmenschen“ möchten zu einem liebevollen Blick auf die Welt verführen.
Wohin sie auch reisen – die Skulpturen Christel Lechners begeistern ihr Publikum: Davon zeugen zahllose Zuschriften per E-Mail und per Post, die das Atelier im Grünen erreichen. Der positive Zuspruch ist es schließlich, der auch manche Kritik im Laufe der Jahre abfederte. „Meine Kunst ist weder politisch noch sozialkritisch – ich möchte die Menschen vielmehr mit meiner Arbeit berühren, sie dort abholen, wo sie stehen“, sagt sie. Christel Lechners „Alltagsmenschen“ möchten zu einem liebevollen Blick auf die Welt verführen. „Und wenn mir das gelingt, ist das wirklich beflügelnd.“
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