Ausstellung

Auf Wasser wandeln

Zehntausende Menschen wandeln auf dem Wasser: Bis zum 3. Juli 2016 ist der norditalienische Iseo-See das weltweit gefeierte Kunstereignis des Jahres. Christos und Jeanne-Claudes The Floating Piers verbinden als schwimmende Fußgängerstege die Ortschaften Peschiera Maraglio und Sulzano am Ufer des Lago d’Iseo mit den Inseln Monte Isola und San Paolo, begleitet von 2,5 Kilometern verhüllter Wege an Land.

Selbst die Fährschiffe auf dem idyllisch gelegenen See scheinen stolz auf das Großereignis und sich ihrer eigenen, wenngleich kurzfristigen Prominenz bewusst zu sein: Mit dem längsseitigen Schriftzug „Navigare in un capolavoro“ („Fahren in einem Meisterwerk“) ehren auch sie die Schöpfer des vergänglichen Zaubers: Christo und Jeanne-Claude.

„Jeanne-Claude liebte das Wasser“, erläutert der amerikanisch-bulgarische Künstler das Werk auch als Hommage an seine Gefährtin in Kunst und Leben, die im November 2009 verstarb. Die erste Idee zu den Floating Piers wurde bereits 1970 geboren. Jetzt ist es Christos erstes Großprojekt, seit beide vor elf Jahren The Gates im New Yorker Central Park realisierten. Gemeinsam schufen Christo und Jeanne-Claude 20 Projekte – und fast doppelt so viele konnten nicht verwirklicht werden. Das Künstlerpaar blickt auf eine lange Verbundenheit mit Italien zurück, das schon verschiedene ihrer temporären Werke beherbergte: Im umbrischen Spoleto schufen Christo und Jeanne-Claude im Jahr 1968 Wrapped Fountain und Wrapped Medieval Tower, 1970 in Mailand Wrapped Monuments und 1973–74 in Rom The Wall – Wrapped Roman Wall

2014 sei er auf der Suche nach dem idealen See für The Floating Piers in die Lombardei gereist, erinnert sich der Künstler. Mit dem Lago d’Iseo, 100 Kilometer von Mailand und 200 Kilometer von Venedig entfernt, malerisch am Fuße der Alpen gelegen, hat er das ideale Setting gefunden – davon ist der 81-jährige überzeugt. Seither liefen die monatelangen Vorbereitungen auf Hochtouren, und das Publikum konnte die Eröffnung kaum erwarten. Über 50.000 Besucher kamen schon am ersten Tag: Im Dienst der Kunst dürfte der Iseo-See mittlerweile sein bisheriges Image als verstecktes Juwel unter den oberitalienischen Seen eingebüßt und eine bis dato ungekannte Popularität erlangt haben.

Seine Werke, und dies ist Christo wichtig, umfassen alle Stationen des Schaffensprozesses – von der ersten Idee bis zur Vollendung. Wie bei all seinen Projekten wurden auch bei The Floating Piers die Kosten in Höhe von 15 Millionen € vollständig durch den Verkauf seiner Zeichnungen, Collagen und Skizzen finanziert. Herausgekommen ist eine künstlerische, technische und logistische Meisterleistung: 200.000 luftgefüllte Kunststoffquader bilden ein modulares Schwimmdocksystem, das fest im See verankert ist und so problemlos Wind und Wellen trotzen soll. Ein schweres Gewitter ließ kurz nach der Eröffnung trotzdem kurzfristig die Alarmglocken schrillen: Rein vorsorglich wurden die Besucher mit Booten wieder an Land gebracht.

Rund um die Uhr können die schwimmenden Stege beschritten werden – ohne Eintrittsgebühr. Der einzige Preis, den es zu zahlen gilt, ist Geduld: Da die Piers naturgemäß nicht alle Besucher auf einmal tragen können, sondern nach Aussage des Künstlers „nur“ etwa 12.000 Menschen gleichzeitig, müssen Wartezeiten unbedingt einkalkuliert werden. Man rechnet am Iseo-See mit zumindest einer halben Million Besuchern. Diejenigen, die sich zum Teil von weit her zunächst auf den Weg nach Brescia gemacht haben, nehmen die Wartezeiten zumeist gelassen auf sich, fahren mit restlos überfüllten Zügen an den See, wo alle Übernachtungsmöglichkeiten schon lange restlos ausgebucht sind. Mitunter limitiert auch die Wetterlage den Einlass. Und trotzdem ist die Stimmung beim Wandeln über das Wasser entspannt und heiter: Man flaniert stundenlang über die 16 Meter breiten Stege, sieht und wird gesehen, lässt die Beine im kühlen Wasser baumeln und genießt es, dabei zu sein. Und schließlich kann man sich auch an Land die Zeit wunderbar vertreiben: Mit einem Besuch in den Cafés und schlendernd in den Gässchen von Sulzano und Peschiera Maraglio, die teils auch mit dem goldgelb schimmernden Stoff belegt sind. Oder mit einer Wanderung auf die umliegenden Höhen, die einzigartige Ausblicke auf den See garantieren.

Aus der Vogelperspektive wirken die gelb überzogenen Pontons wie mit leichter Hand auf dem Reißbrett in den See hinein konstruiert, verraten in ihrer nur sanft schaukelnden Geradlinigkeit wenig von dem enormen Aufwand, der zur ihrer Realisierung nötig war. Vom bürokratischen Vorlauf, der Überzeugungsarbeit und den nötigen behördlichen Genehmigungen abgesehen, sprechen hier die reinen Zahlen und Fakten für sich: Über 200.000 Polyethylen-Würfel wurden in Fondotoce am Lago Maggiore über einen Zeitraum von acht Monaten gefertigt, an den Iseo-See transportiert und zu 100 Meter langen Teilstücken verbunden. Französische Spezialtaucher verankerten diese mit Seilen in bis zu 90 Metern Tiefe im Grund des Sees. 100.000 Quadratmeter Stoff wurden im münsterländischen Greven gewebt, in Lübeck in Form geschnitten und mit Garn aus Wuppertal vernäht. Mehr als 300 Helfer bezogen die zuvor mit polsterndem Filz versehenen Stege mit dem gelben Gewebe, dessen Farbe je nach Sonnenstand changiert und sich nach Angaben Christos mit der Zeit und der Einwirkung von Wasser und Sonnenlicht ins Goldrötliche verändern soll.

Christos und Jeanne-Claudes Kunst will nicht Vehikel von Meinungen und Statements sein – sie will Perspektiven verändern und Gewohntes in neuem Licht erscheinen lassen. Sie verhüllten den Berliner Reichstag, den Pont Neuf in Paris und römische Stadtmauern, kleideten Inseln und Bäume in Stoff. Es geht dem Künstlerpaar um das Empfinden von Freiheit, um die poetische Dimension menschlichen Handelns, aber vor allem um Freude und Genuss mit allen Sinnen. Wasser, Wind und Sonne sind unabdingbare Komponenten der Floating Piers. „Auf dem See spürt man die Dynamik des Wassers unter den Füßen, aber nicht wie in einem Boot“, erklärt Christo. „Die Stege atmen, sie übertragen die Bewegung.“ Dies sei der wesentliche Kern der Floating Piers: „Dieses Projekt ist eigentlich nicht zum Anschauen“, erläutert Christo. „Es ist zum Erleben, zum Darübergehen. Man muss das Projekt und alles Umgebende einatmen. Eigentlich sollte man barfuß über die Stege laufen – das ist ein gutes Gefühl.“

Begleitend ist im Stadtmuseum Brescia bis zum 18. September 2016 die Ausstellung „Christo and Jeanne-Claude. Water Projects“ zu sehen, die von Germano Celant kuratiert und in enger Kooperation mit dem Künstler realisiert wurde. Die Schau bietet einen Überblick über Christos und Jeanne-Claudes Projekte mit Bezug zum Wasser: Mit über 150 Exponaten, darunter vorbereitende Zeichnungen und Collagen, Modelle, Fotografien, Videos und Filme entwickelt die Ausstellung einen chronologischen Überblick über die monumentalen Werke seit den frühen 1970er-Jahren bis zu The Floating Piers.

Auf einen Blick:

Publikation:
Christo and Jeanne-Claude. The Floating Piers
Christo & Jeanne-Claude, Wolfgang Volz, Jonathan William Henery, Softcover mit Klappen, engl./ ital., 23,5 x 29,0 cm, 128 Seiten, € 19,99, Taschen, ISBN 9783836547833

Begleitende Ausstellung:
Museo di Santa Giulia
Via Musei 81b, Brescia
Bis 18. September 2016: Christo and Jeanne-Claude. Water Projects.
Information und Buchung: santagiulia@bresciamusei.com
www.mostrachristo.bresciamusei.com
Tel. +39-030-2977833-834

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Profile

Christo (Christo Vladimirov Javacheff) und Jeanne-Claude (Jeanne-Claude Denat de Guillebon) wurden beide am 13. Juni 1935 geboren, Christo in Gabrovo in Bulgarien, Jeanne-Claude in Casablanca. Sie lernten sich 1958 in Paris kennen und arbeiteten seit ihrem ersten Projekt Stacked Oil Barrels and Dockside Packages, Cologne Harbor (1961) zusammen. Jeanne-Claude starb am 18. November 2009 in New York.

Website von Christo und Jeanne-Claude ›

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