Porträt

Leichtigkeit als innere Vorstellung

Porträt der Malerin Isabelle Roth

Figuren und Dinge leben gefährlich in den Bildern von Isabelle Roth. Ihre Existenz kann sich jederzeit zwischen dünnen Farbschichten auflösen. Oder durch eine Metamorphose radikal transformieren. Und das selbst dann, wenn sie schon in einer Ausstellung zu sehen waren.

o. T., 2022–23, Acryl/Öl/Kohle auf Leinwand, 150 x 200 cm © und Foto: Isabelle Roth

o. T., 2022–23, Acryl/Öl/Kohle auf Leinwand, 150 x 200 cm
© und Foto: Isabelle Roth

Da wird zum Beispiel eine weiß gewandete, weibliche Gestalt beim Übermalen von einem unruhig-grauen Bildraum verschluckt, während sich an anderer Stelle ein Brot in eine Eule verwandelt. So gesehen in einer Arbeit von 2023, in der zwei fröhlich bewegte Figuren auf der linken Seite einer länglichen, wenig stabil erscheinenden Bank sitzen. Fast lebensgroß sieht die eine verträumt, die andere keck von der Leinwand herab, beide mit schmalen Oberköpern sowie kräftigen Beinen und Füßen, die von farbigen Streifen durchzogen sind. Neben dem schon erwähnten Vogel und ein paar Blütenzweigen in ihren Händen leisten ihnen noch drei hellgelbe Schüsseln mit offensichtlich essbarem Inhalt und ein paar nicht ausgemalte, rundliche Früchte auf der Bank Gesellschaft.

Die gesamte Komposition ist von einer erstaunlichen Balance zwischen Stille und Bewegung, zwischen Stabilität und Fragilität erfüllt. Das führt zu einer zauberhaften Zeitlosigkeit und Ruhe in der Betrachtung. Und damit zu einer eindrucksvollen Leichtigkeit, die sich direkt auf die Menschen vor der Leinwand überträgt.

Dieser Aspekt durchdringt nicht nur die künstlerische Entwicklung von Isabelle Roth, sondern zieht sich auch durch den Entstehungsprozess jedes einzelnen Werks. Erstaunlicherweise steht dazu in keinem Widerspruch, dass das Malen per se alles andere als „leicht“ ist, wie Roth in ihrem großen, hellen und lichtdurchfluteten Atelier erzählt.

o. T., 2021–23, Acryl/Öl/Kohle auf Leinwand, 80 x 90 cm © und Foto: Isabelle Roth

o. T., 2021–23, Acryl/Öl/Kohle auf Leinwand, 80 x 90 cm
© und Foto: Isabelle Roth

Vor neun Jahren hat sie mit ihrem Mann, dem Maler und Grafiker Georg Schwellensattl, am Rande eines Gewerbegebiets in Geretsried ein modernes Künstlerhaus – mit einem hohen Eigenanteil an Planung und Ausführung – in Holzbauweise errichten lassen. Die nebeneinander liegenden Arbeitsräume sind mit Fenstern und Türen gen Süden ausgerichtet. Dort grenzen sie an einen schönen Garten mit Blumen und Nutzpflanzen, der den Blick auf eine weite Landschaft mit Feldern und Wäldern freigibt. Als Zeichen für eine bewusste Trennung von Leben und Arbeiten führt eine überdachte Außentreppe ins darüber liegende Privatgeschoss mit kleinen Zimmern und einem großen offenen Wohnbereich mit Küche.

Isabelle Roth im Atelier © und Foto: Isabelle Roth

Isabelle Roth im Atelier
© und Foto: Isabelle Roth

Gerade weil es spärlich möbliert und zweckmäßig eingerichtet ist, scheint das Atelier Isabelle Roths in seiner Schlichtheit durchaus den aufs Wesentliche konzentrierten Bildszenen in ihren Werken zu entsprechen. Mit einem schönen Dielenboden und einer Holzbalkendecke, viel Stauraum und wenigen Tischen, einem großen Rollwagen mit Farben und Spachteln sowie einem senfgelben Sessel ist alles Wichtige vorhanden. „Ich mag das Wenige und verbinde es mit dem Freisein“, erläutert die Künstlerin feinsinnig.

o. T., 2016, Acryl/Öl/Kohle auf Leinwand, 120 x 170 cm © und Foto: Isabelle Roth

o. T., 2016, Acryl/Öl/Kohle auf Leinwand, 120 x 170 cm
© und Foto: Isabelle Roth

Die Malerin wird 1969 in Zürich geboren und wächst dort in einem weltoffenen Elternhaus auf. Sie geht zur Waldorfschule, zeichnet und modelliert Figuren in Form von Frauen und Kindern im Atelier der Mutter. Zunächst absolviert sie eine Tanzausbildung an der Colombo Dance Factory in Zürich, doch die Ausrichtung ist ihr zu klassisch. Mit Anfang zwanzig zieht die Künstlerin nach München und lernt dort ihren Mann kennen. Sie gründet mit ihm eine Familie, bekommt zwei Töchter und studiert ab 1995 an der Akademie der Bildenden Künste in München Bildhauerei bei Olaf Metzel. Weil Roth konsequent, aber aus damaliger Sicht „unzeitgemäß“ figurativ bleibt, zahlt sie für ihre künstlerische Freiheit mit mehrfachen, freiwilligen Klassenwechseln. Ihr Diplom macht sie 2000 bei James Reineking und genau in dieser Phase entdeckt sie Leinwand und Farben für sich. „Ich habe nach etwas Leichterem gesucht, die Malerei war deswegen wie eine Erlösung von der Bildhauerei“ so Roth.

Zuhause beim Turnen, 2001, Acryl/Kohle auf Leinwand, 200 x 180 cm © Copyright und Foto: Isabelle Roth

Zuhause beim Turnen, 2001, Acryl/Kohle auf Leinwand, 200 x 180 cm
© und Foto: Isabelle Roth

Schon in ihren ersten Gemälden legt sie Grundlegendes an: Wie in den plastischen Arbeiten gestaltet sie ihre Figuren nahezu lebensgroß. Sie entwirft sie – in Anlehnung an die Vorbereitungsphase im dreidimensionalen Arbeiten – in kräftiger Kontur, während sie die Änderungen stehen lässt und ihre kompositorischen Experimente teils in ablesbare Bewegungsabläufe verwandelt. Weil die Formate aus Platzgründen kleiner sind als heute, passen die meist weiblichen Protagonistinnen kaum in den hier noch zeichnerisch angedeuteten Bildraum. Doch schlichtes, fragiles Mobiliar, Gläser, Flaschen und Obst sind bereits in eigenwilliger Perspektive vorhanden.

Im Laufe der Jahre geht Isabelle Roth dann zu einem feineren Strich über. Sie nutzt zunehmend große Leinwandflächen, weitet die Räume. Sie lässt ihren Figuren Haare wachsen und versieht sie mit weißen oder gemusterten Röcken und Kleidern. Was sie jedoch beibehält, sind die auffällig großen, androgyn wirkenden Extremitäten. Auf diese Weise möchte die Künstlerin, die selbst von schlanker, schmaler Statur ist, ihren Frauen eine gewisse Kraft verleihen, möchte sie physisch und mental stärken. „Daher haben sie oft die Hände und Füße von meinem Mann“, verrät sie lachend.

Der lange Teppich, 2021, Acryl/Öl/Kohle auf Leinwand, 110 x 300 cm © und Foto: Isabelle Roth

Der lange Teppich, 2021, Acryl/Öl/Kohle auf Leinwand, 110 x 300 cm
© und Foto: Isabelle Roth

Trotz dieser aparten Anverwandlung besitzen die dargestellten Frauen eine unübersehbare, intrinsische Grazie. So auch die weibliche Figur in dem Bild Der lange Teppich. Sie ruht sinnierend auf einer Bank – einen unendlich langen Läufer unter und vor sich, einen weißen Hund zu ihren Füßen. Entgegen ihrer übermäßig großen Linken und ein paar sehr langen Füßen wirkt ihr Körper – dank fließender Linien und paralleler Setzungen – durchaus harmonisch, ja fast elegant.

Gänsemädchen, 2024, Acryl/Öl/Kohle auf Leinwand, 90 x 120 cm © und Foto: Isabelle Roth

Gänsemädchen, 2024, Acryl/Öl/Kohle auf Leinwand, 90 x 120 cm
© und Foto: Isabelle Roth

Tatsächlich kommt hier die tänzerische Ausbildung der Künstlerin ins Spiel. Denn die Anatomie ihrer Frauen entwickelt die Malerin nach ihrer Ballettzeit aus der Erinnerung an ihre eigenen, vorm Spiegel der Übungssäle erprobten Haltungen und Bewegungen heraus. Diese besondere Körpererfahrung, die Abläufe und die damit verbundene Ästhetik prägen sie bis heute. Auch die überlangen Arme und Beine sind darauf zurückzuführen: „Man muss beim Tanz den Sprung immer weiter, den Arm immer länger denken, als er jeweils sein kann, damit alles diese Leichtigkeit bekommt. Das hat sich bei mir auf die Bilder übertragen.“

o. T., 2024, Acryl/Öl/Kohle auf Leinwand, 200 x 150 cm © und Foto: Isabelle Roth

o. T., 2024, Acryl/Öl/Kohle auf Leinwand, 200 x 150 cm
© und Foto: Isabelle Roth

Diese vom Ballett beeinflusste, innere Vorstellung, aus der die Künstlerin ihre Arbeiten schafft, betrifft jedoch nicht nur ihr durchgängig feminines Personal, sondern sämtliche Bildelemente in ihrer Kunst, also alle Körper, Räume und Dinge. Auch die eigenartig ausgewogene Zusammenkunft sorgfältig ausgesuchter Motive in ihren Interieurs und Stillleben ist davon durchdrungen. Ausgesprochen luftig wirken daher zum Beispiel die Gegenstände in einem Stillleben von 2021.

o. T., 2021–23, Acryl/Öl/Kohle auf Leinwand, 60 x 120 cm © und Foto: Isabelle Roth

o. T., 2021–23, Acryl/Öl/Kohle auf Leinwand, 60 x 120 cm
© und Foto: Isabelle Roth

Auf einer ockerfarbenen Fläche erkennt man die Andeutung von Schüsseln, Vasen und lose verteilten Früchten. Dabei scheint jedes dargestellte Objekt eigenen statischen Gesetzen zu gehorchen: Wie auf einem echten Tisch arrangiert Isabelle Roth Geschirr und Obst auf der Leinwand so lange, bis sie für sie stimmig sind. Ohne je nach der Natur zu malen, rückt sie die Sujets während des Entstehungsprozesses an ihren richtigen Platz. Bei diesen Setzungen kommt wieder ihr eigenes Erleben, ihre ganz persönliche Perspektive ins Spiel. Diesmal ist es die bewusst auf das Einfache und Schlichte ausgerichtete Gestaltung ihrer Alltagswelt und die dennoch vielfältigen, in der Malerei wie im Leben enthaltenen Möglichkeiten, die entscheidend zur vibrierenden Stimmung in ihrem Werk beitragen.

Am Wasser, 2024, Acryl/Öl/Kohle auf Leinwand, 200 x 150 cm © und Foto: Isabelle Roth

Am Wasser, 2024, Acryl/Öl/Kohle auf Leinwand, 200 x 150 cm
© und Foto: Isabelle Roth

Dass die Künstlerin, die von Alois Carigiet, Romane Holderried-Kaesdorf oder Richard Vogel inspiriert wird, die Spuren der Veränderung entweder stehen oder durchschimmern lässt, macht den komplexen Malvorgang transparent: In der Arbeit Am Wasser von 2024 werden zum Beispiel bei näherer Betrachtung weitere Kakteen unter der beigen Fläche des Hintergrunds sichtbar.

Nachdem Isabelle Roth eine Leinwand selbst aufgezogen und weiß grundiert hat, trägt sie mit der Walze eine erste dünne Schicht in Acryl auf, meist eine schwarz-graue Umrandung, einige farbige Streifen und Flächen sowie Schrift oder gegenstandslose Lineaturen für den initialen Start ins Bild. Anschließend beginnt sie mit Kohle darauf zu zeichnen. In dieser, bereits von vielen Korrekturen geprägten Phase entsteht die erste Komposition.

Dann folgt die Ölfarbe, die Isabelle Roth erst seit etwa zehn Jahren verwendet und ausschließlich mit Spachteln in unterschiedlicher Größe dünn aufträgt. Denn eigentlich geht sie in ihrer Kunst mit Mitteln der Bildhauerei vor. „Ich habe nicht gelernt, mit dem Pinsel in Öl zu malen“ erzählt sie voller Respekt vor dem Medium, in dem sie sich heute bewegt. Dass sie das Inkarnat nicht behandelt, sondern hier die unterste Farbschicht durchschimmern lässt, hat ebenfalls damit zu tun. Doch gerade dieses ungewöhnliche Vorgehen führt zu der beeindruckend charakteristischen Spannung, die Roth bis zum Schluss zwischen dem zeichnerischen und farbplastischen Auftrag erzeugt.

Der Traum, 2024, Acryl/Öl/Kohle auf Leinwand, 120 x 400 cm © und Foto: Isabelle Roth

Der Traum, 2024, Acryl/Öl/Kohle auf Leinwand, 120 x 400 cm
© und Foto: Isabelle Roth

Während sie viel Zeit in jede Arbeit investiert, ist es der Künstlerin wichtig, sich stetig weiterzuentwickeln: Ihre aktuellen Bilderfindungen verlegt sie zunehmend ins Außen oder löst darin alle räumlichen Bezüge auf, wie in Der Traum von 2024. Statt farbiger Horizonte treten hier gegenstandslose Linien in Erscheinung, die Roth nicht nur in der Anfangs- sondern gern auch in der Endphase verwendet, um die dem Malvorgang eingeschriebene Freiheit zu betonen.

Der Traum ist die neuste Arbeit, die Isabelle Roth für eines der vier Cafés der Bio-Bäckerei Neulinger in München geschaffen hat. Schon seit 20 Jahren versieht sie dort die Wände über den offenen Backstuben mit außergewöhnlich breiten Arbeiten und hat auf diese Weise schon viele Fans und Sammler in München gewonnen. Die Künstlerin, die seit ihrem Akademieabschluss nicht über mangelnde Nachfrage klagen kann und heute von der Galerie Tobias Schrade aus Ulm und der Galerie 13 aus Freising vertreten wird, ist stolz auf diese ungewöhnliche Kooperation.

Lässt die Künstlerin – wie in Der Traum – ihre Figuren musizieren, geht von diesen eine besondere Qualität der Versunkenheit aus. Isabelle Roth, die selbst Klavier und Akkordeon spielt, gelingt es hier, eine große Form der Harmonie zu erzeugen. Die ruft sie auch in der unaufgeregt natürlichen Verbindung von Mensch und Tier auf der Leinwand hervor. Sie schafft hier einen Gleichklang und eine Situation des Im-Moment-Seins, die ein Gefühl von Gelöstheit vermitteln. Zudem führt sie die Existenz alles Dargestellten sichtbar auf ihren Ursprung als Malerei zurück, lässt die gesamte Szenerie auf diese Weise „leicht“ erscheinen. Aus ihrem tänzerischen Denken entwickelt Isabelle Roth eine eigene Bildvision, die den Takt und die Zumutung des Alltags für kostbare Zeit vergessen lässt.

 

 

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Profile

Isabelle Roth wurde 1969 in Zürich geboren. Dort durchlief sie zunächst eine Tanzausbildung an der Colombo Dance Factory. Von 1995 bis 2000 absolvierte sie ein Studium an der Akademie der Bildenden Künste in München im Fach Bildhauerei. Zum Ende hin begeisterte sie sich zunehmend für die Malerei und entschied sich für eine Laufbahn als Malerin. Bis sie mit ihrem Mann zusammen ein Künstlerhaus in Geretsried in der Nähe des Starnberger Sees bauen ließ, lebte sie lange Zeit mit ihrer Familie in München.

Isabelle Roth wird von zwei Galerien vertreten und ist regelmäßig auf der Art Karlsruhe zu sehen. Ein besonderer Kooperationspartner ist die Bäckerei Neulinger in München, für deren Cafés die Künstlerin seit 20 Jahren Werke in ungewöhnlichen Formaten schafft.

[© und Foto: Isabelle Roth]

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