Ausstellung

Streicheleinheiten im Museum

„Please Touch!“: Im Kunstpalast lädt Tony Cragg zu einer hautnahen Begegnung mit seinen Skulpturen ein

Normalerweise ist das Berühren der Kunst im Museum strikt untersagt. Der Düsseldorfer Kunstpalast setzt dieses Tabu vorübergehend außer Kraft. Die aktuelle Werkübersicht „Please Touch!“ vereint Skulpturen des Bildhauers Tony Cragg, die mit den Augen und mit den Händen wahrgenommen werden dürfen.

„Nur gucken, nicht anfassen“: Der legendäre Bier-Werbespot mit Rudi Assauer und Simone Thomalla gilt erst recht im Museum. Die dort zur Schau gestellten kostbaren Objekte dürfen in aller Regel nicht betastet werden, weil Berührungen Schäden hervorrufen können, beispielsweise durch Abrieb oder chemische Reaktionen. Eine Ausnahme von der konservatorischen Regel macht der Düsseldorfer Kunstpalast bei seiner aktuellen Sonderausstellung mit rund 60 Plastiken von Tony Cragg. Bei „Please Touch!“ ist die Tuchfühlung mit der Kunst erlaubt. Mehr noch: Sie ist sogar erwünscht. Allerdings nur mit den Händen und mit der gebotenen Sensibilität. Der in Wuppertal lebende deutsch-britische Bildhauer empfindet es „als Privileg, dass Menschen meine Arbeiten berühren wollen“.

Cragg und Kunstpalast-Direktor Felix Krämer, Kurator von „Please Touch!“, geht es darum, die Wahrnehmung zu bereichern, dem visuellen Zugang einen haptischen hinzuzufügen. Wie wichtig der für die Erweiterung des intellektuellen Horizonts ist, demonstriert die deutsche Sprache durch das doppeldeutige Verb „begreifen“.

Kalter Stein, warmes Holz, harter Stahl

Tony Craggs Kunst bietet für Berührungspunkte das ideale Experimentierfeld: zum einen, weil seine Skulpturen sich zu einem Formenarsenal fügen, das mannigfaltiger kaum gedacht werden kann; zum anderen – und sogar noch bedeutsamer – weil der Bildhauer, der seine Werke als „gewollte Verlängerungen unserer Körper“ betrachtet, eine Vielzahl von Materialien zum Einsatz bringt, die allesamt über je eigene Tasteigenschaften und Temperaturen verfügen. Da ist der kalte Stein, der kühle Marmor, der harte Stahl, die geschmeidige Bronze, das warme Holz oder das glatte Glas. So viele Werkstoffe, so viele Nuancen. Auch Plastik, Glasfaser oder Kevlar dienen Cragg als Ausgangsmaterial für seine Schöpfungen. „Jede Oberfläche“, sagt er, „hat eine bestimmte Wertigkeit.“

„Glas ist eine Flüssigkeit, es bildet an der Oberfläche eigene Formen, Tropfen, Kugeln, Strähnen. Das Glas formt sich selbst – das ist immer ein magischer Moment mit dem Material.“ (Tony Cragg)

Übrigens stammen die Werke, die jetzt in Düsseldorf zu Streicheleinheiten einladen, samt und sonders aus dem Besitz von Cragg selbst. Nicht weiter verwunderlich, denn welcher Sammler würde sich darauf einlassen, Skulpturen aus seinem Besitz dem Zugriff wildfremder Menschen zu überlassen? „Tausend Mal berührt, tausend Mal ist nichts passiert“ – der Song von Klaus Lage gehört sicher nicht zu den Lieblingsliedern von Kunstsammlern. Wenn „Please Touch!“ Ende Mai die Pforten schließt, steht in Craggs weiträumiger Wuppertaler Werkstatt, wohin die Exponate zurückkehren, ein Großreinemachen auf dem Programm. Auch zwischendurch besteht Handlungsbedarf: Um die Plastiken von Fingerabdrücken und anderen unliebsamen Spuren zu befreien, wird der kunstsachverständige Reinigungsdienst des Museums jeden Abend nach Ausstellungsschluss aktiv.

Keine Regel ohne Ausnahme: Im letzten Raum der Ausstellung ist man wieder auf die traditionelle Rolle des Zuschauers zurückgeworfen. Hier hat Tony Cragg in hohen Regalen und auf Tischen eine Dependance seines ebenso weiträumigen wie materialreichen Wuppertaler Ateliers eingerichtet. Eine Mischung aus Sammelsurium und Wunderkammer, prall gefüllt mit Kunst, Werkzeugen, Steinen, Fundstücken und anderen inspirierenden Dingen. Beim Blick hinter die Kulisse gilt das gewohnte „Berühren verboten“.

Wahrnehmungsprozess in zwei Stufen

Abgesehen von dieser Studio-Rekonstruktion gestaltet sich der Wahrnehmungsprozess in der Düsseldorfer Cragg-Ausstellung in der Regel zweistufig: Zunächst betrachtet man die Gesamtgestalt einer Skulptur, umrundet sie, nimmt womöglich Details ins Visier; anschließend werden Formen und Textur erstastet. Nicht ausgeschlossen auch, dass der eine oder andere umgekehrt vorgeht, also erst den Körperkontakt sucht und anschließend einen distanzierteren Betrachter-Standpunkt einnimmt.

So oder so, die Erfahrungen, die auf diese Weise vor und mit der Kunst von Tony Cragg ermöglicht werden, fallen ganz unterschiedlich aus. Zum einen gibt es Werke mit einer homogenen, großflächig strukturierten Oberfläche – beispielsweise die Bronzen „Migrant“ und „Outspan“ (das Postermotiv der Schau) oder eine Travertin-Plastik „ohne Titel“. Hier kann die Hand ihre Erkundungstour in raschen Zügen und großzügigen Intervallen durchführen. Zum anderen begegnen einem beim Rundgang durch die Räume, die als neutrales Setting, ganz ohne Ausstellungsinszenierung daherkommen, kleinteilige, filigran verästelten Werke. Etwa die Bronzen „We“, „Manipulations“ und „Wave“: Wegen der unzähligen, auf engem Raum sich entfaltenden Details kommt das Ertasten hier viel langsamer voran, gleichsam im Zentimetermaß und Zeitlupentempo. Vor allem die grandiose, strudelnd-aufgewühlte Menschenwelle von 2022 – eine Überraschung für alle, die mit Tony Cragg organische, gegenstandslose Werke aus einem Guss verbinden – stellt hohe Anforderungen an das Tastmanöver.

„Bronze ist fast das ideale Material. Aufgrund des niedrigen Schmelzpunktes kann man im flüssigen Zustand fantastische, komplizierte Formen erzeugen.“ (Tony Cragg)

Ein Experiment, das angesichts der „Finger weg“-Etikette in den Museen ungewöhnlich ist. Gleichwohl fällt es nicht völlig aus dem Rahmen. Felix Krämer verweist auf andere Bildhauer des 20. Jahrhunderts, denen es ein Anliegen war, die haptische Barriere zu durchbrechen. Barbara Hepworth, die britische Bildhauerin, erklärte: „Ich denke, jede Skulptur muss berührt werden … Man kann eine Skulptur nicht betrachten, wenn man stocksteif dasteht und sie anstarrt.“ Ähnlich dachte ihr Landsmann Henry Moore. Bei einer Ausstellung, die 1950 in der Hamburger Kunsthalle zu sehen war und auch im städtischen Düsseldorfer Kunstmuseum gezeigt wurde, durften einige seiner abstrakten Plastiken betastet werden. Für Skulpturen, die im öffentlichen Raum aufgestellt sind, gilt das „Noli me tangere“ ja ohnehin nicht.

Berührungsängste abbauen

Weil sich mittlerweile viele Kunstinstitutionen um einen niedrigschwelligen Zugang zu den Exponaten bemühen, haben interaktive Formate verschiedener Couleur Hochkonjunktur. Berührungsängste abzubauen, steht auf der Prioritätenliste ganz oben. So zeigt das Duisburger Lehmbruck Museum derzeit die Ausstellung „Shape! Körper + Form begreifen“ (bis 1.9.2024): Ausgestattet mit dünnen Handschuhen, kann das Publikum die Formenvielfalt und die unterschiedlichen Materialien der Skulpturen porentief erkunden. Für dieses Experiment hat Sybille Kastner, Kunstvermittlerin am Lehmbruck Museum, figürliche Plastiken aus dem Fundus des Hauses zusammengestellt. Hautnah präsentiert werden unter anderem Arbeiten von K.O. Götz, Norbert Kricke, Wilhelm Lehmbruck, Thomas Rentmeister, Edwin Scharff und Rico Weber. Einem vergleichbaren Impuls folgt das Museum Ostwall im Dortmunder U mit seiner aktuellen Ausstellung „Kopfüber in die Kunst. Vom Environment zur Immersion“ (bis 25.8.2024). Bei der Schau, die sich vor allem an Kinder richtet, können acht Rauminstallationen mit allen Sinnen sondiert werden. Ferdinand Spindels vielfältig verknäulter „Schaumraum“ von 1969, der für die Ausstellung rekonstruiert worden ist, bietet unendlich viele Zonen für eine tastende Rauminspektion.

Auf Pygmalions Spuren

„Please Touch!“ liegt also voll im Trend. Andererseits lässt sich von Tony Craggs Experiment auch eine Brücke zum antiken Pygmalion-Mythos schlagen. In seinen „Metamorphosen“ erzählt der antike römische Dichter Ovid die Geschichte des Künstlers Pygmalion von Zypern. Ihm glückt eine Elfenbeinstatue, die so lebensnah ist, als sei sie eine Frau aus Fleisch und Blut. Man ahnt, wie es weitergeht: Pygmalion verliebt sich in sein eigenes Geschöpf und liebkost die Statue wiederholt mit zärtlichen Berührungen. Derart vitalisierend ist dieses Rendezvous mit der Kunst, dass sich die Skulptur am Ende in einen lebendigen Menschen verwandelt. Auf diese wundersame Weise kommt Pygmalion zu einer Partnerin.


Ausstellung
Tony Cragg. Please Touch!
Laufzeit: bis 26. Mai 2024
Ort:  Kunstpalast Düsseldorf, Ehrenhof 4–5, 40479 Düsseldorf
www.kunstpalast.de

Als zusätzliches Angebot ist in der Kunstpalast-App ein Audioguide zur Ausstellung verfügbar. Er enthält ein akustisches Leitsystem und Beschreibungen der Werke für blinde und sehbeeinträchtigte Personen. Ein Katalog erscheint nicht. Als unorthodoxen Ersatz kann man im Museumsshop eine aus Hanf gefertigte Maske mit den Gesichtszügen des Künstlers erwerben. 200 der Masken sind von Cragg signiert – sie kosten 200 Euro. Außerdem gibt es unlimitierte unsignierte Masken für zwölf Euro pro Stück.

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Profile

Tony Cragg wurde 1949 in Liverpool geboren. Seit 1977 lebt der britisch-deutsche Künstler in Wuppertal. Studium am Gloucestershire College of Art and Design in Cheltenham, der Wimbledon School of Art in London und dem Royal College of Art in London. Seine erste Professur trat Cragg 1976 an der École des Beaux-Arts in Metz an. 1977 zog er nach Wuppertal, wo der britisch-deutsche Künstler bis heute lebt und 2008 den Skulpturenpark Waldfrieden gründete – dort läuft bis zum 14. Juli 2024 eine Ausstellung mit Arbeiten des britischen Bildhauers Anthony Caro (1924–2013). Von 1978 bis 2016 lehrte Cragg an der Düsseldorfer Kunstakademie, davon mehrere Jahre als deren Direktor. Etliche Preise würdigen sein Schaffen, darunter der Turner Prize (1988) und der Praemium Imperiale (2007). Zahlreiche Ausstellungen und Werke im öffentlichen Raum. Seine Skulpturen befinden sich unter anderem im Museum of Modern Art in New York, der britischen Tate Collection und dem Centre Pompidou in Paris.

[Foto: Anne Orthen]

 

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