„Isa Genzken. 75 / 75“ in der Neuen Nationalgalerie Berlin
„Ich wollte immer den Mut haben, total verrückte, unmögliche und auch falsche Dinge zu tun“, wird Isa Genzken im Jahr 1994 zitiert. Eine Haltung, die zu ihrem außergewöhnlichen künstlerischen Weg beigetragen haben mag: Sie bürstete etablierte Kunstauffassungen gegen den Strich, behauptete sich in der männlich dominierten Kunstwelt der 1980er- und 1990er-Jahre, hinterfragte gängige ästhetische Stile, fügte Trash zu Skulpturen und führte einen kritischen Dialog mit der Architektur der Moderne. Heute ist sie längst international bekannt und berühmt – für ihren richtungsweisenden Beitrag zur Skulptur, aber auch für ihre Arbeiten in Fotografie, Malerei, Collage und Film. Isa Genzkens Arbeiten entstehen aus den Erfahrungen des täglichen Lebens, indem sie scheinbar disparate Materialien zu unerwarteten Objekten kombiniert.
„Wenn man um meine Werke herumgeht und auf das Szenario achtet, taucht immer wieder etwas anderes auf und man kann immer etwas Neues entdecken und damit sympathisieren.“
Isa Genzken 2006
Zu Ihrem 75. Geburtstag am 27. November 2023 widmet die neue Nationalgalerie Berlin Isa Genzken die umfassende Sonderausstellung „Isa Genzken. 75 / 75“, in der 75 Werke zu sehen sind – erfahrbar im Umrunden, ohne von Stellwänden voneinander getrennt zu sein. Die Ausstellung bietet einen Parcours durch Genzkens Werk von den frühen Hyperbolos der 1970er-Jahre über die Werke aus Beton der 1990er- bis hin zu den Schauspielern und Figurengruppen aus den 2000er-Jahren. Chronologisch geordnet sind die Werke über die gesamte obere Halle der Neuen Nationalgalerie verteilt – die Betrachter*innen können zwischen ihnen hindurch und um sie herumgehen. Schon vor dem Eingang nimmt eine überdimensionale und trotzdem zarte pinkfarbene Rose die Besucher*innen in Empfang: „Sie ist so groß wie möglich, aber immer noch so filigran, wie ich sie eben machen konnte“, so Isa Genzken, „und sie nimmt möglichst wenig Raum ein.“
Isa Genzken wurde 1948 in Bad Oldesloe geboren und studierte Bildende Kunst, Kunstgeschichte und Philosophie in Hamburg, Berlin und Köln und bereitete so die Basis für ihre selbstbewusste, unabhängige und intellektuelle Kunst, bevor sie 1977 ihr Studium an der Kunstakademie Düsseldorf abschloss. Dort heiratete sie 1982 ihren Professor Gerhard Richter; die Ehe wurde 1993 geschieden. Heute lebt und arbeitet Isa Genzken in Berlin. Ihr Gesamtwerk war Gegenstand zahlreicher Ausstellungen, darunter 2013 eine Retrospektive im Museum of Modern Art in New York. Ihre Arbeiten waren auf zahlreichen internationalen Biennalen und Gruppenausstellungen vertreten, davon allein drei Mal auf der documenta und fünf Mal auf der Biennale von Venedig, wo sie 2007 den Deutschen Pavillon bespielte. 2017 wurde ihr mit der Jury-Begründung, ihr Werk sei „ungeschönt, punkig, aber nie ohne Humor“ der Goslaer Kaiserring zugesprochen. 2019 erhielt sie den Nasher Prize des Nasher Sculpture Center in Dallas, Texas.
Seit den 1970er-Jahren gelingt es der Künstlerin in einzigartiger Weise, Werke zu schaffen, die einen anderen Blick auf die Welt eröffnen, scheinbar Gegebenes hinterfragen, zu Reflexionen anregen und sich jeder Kategorisierung verweigern. Bewegung und Veränderung sind die Stichworte, die ihr Werk wohl am treffendsten charakterisieren – sie kennt keinen Stillstand und immer neue Wege, die Betrachter*innen zu alarmieren und anzuregen. „Genzkens Schaffen ist unvorhersehbar, faszinierend wie rätselhaft, spielerisch und immer einladend“, so das Kuratorenteam Klaus Biesenbach, Direktor Neue Nationalgalerie, und Assistenzkuratorin Lisa Botti. Sie haben für die Ausstellung übergeordnete Themenkomplexe der Werkserien identifiziert: „Zum einen sieht die Künstlerin Alltagsobjekte und Dinge in ihrer Vielfalt und setzt sie auf gleichberechtigte Weise zusammen: Alles wird zu skulpturalem Material, allem gibt sie eine neue Kraft. Obwohl die von ihr verwendeten Materialien vertraut wirken, ist die Kombination ungewöhnlich. Durch Fenster, Sender, Radios und Symbole wie die Rose initiiert die Künstlerin ein Gespräch mit der Außenwelt. Von Beginn an übt sich Genzken in einem Spiel mit Größe, Maßstab, Monumentalität und der Vorstellungkraft der Betrachtenden an einer skulpturalen Narration“, so Biesenbach und Botti. Damit schaffe sie einen intuitiven Blick auf ganz unterschiedliche Themen. Besonders auffällig sei ihre Auseinandersetzung mit dem Raum und eine echte Leidenschaft für Architektur und Städte – insbesondere New York und Berlin.
Die Ellipsoide und Hyperboloide „waren handwerklich ungeheuer kompliziert zu fertigen. […] Alle haben immer gedacht, sie seien maschinell hergestellt worden, aber ich hätte es mir nicht leisten können, sie in einer Flugzeugfabrik oder wo auch immer man so etwas herstellen lassen kann, produzieren zu lassen. Ich war auch sehr stolz auf sie, weil sie mir ermöglichten, ein handwerkliches Niveau zu erreichen, das viele meiner US-amerikanischen Kolleg*innen nicht mehr besitzen. Mit Ausnahme meiner Außenskulpturen habe ich ohnehin immer alles von Hand gemacht.“
Isa Genzken 2006
Unter dem Einfluss der US-amerikanischen Minimal Art schuf Isa Genzken zwischen 1976 und 1982 die Werkgruppe der Ellipsoide und Hyperboloide. Bei den Ellipsoiden handelt es sich um sechs bis zwölf Meter lange Holzskulpturen, die an einem Punkt auf dem Boden aufliegen. Die Grundform der Hyperboloide besteht aus einer konkaven Linie und sie berührt den Boden an zwei Punkten. Die Durchmesser und Maße berechnete und zeichnete die Künstlerin mit einem Physiker der Universität Köln an einem aus heutiger Sicht noch überdimensionalen Computer, bevor sie ihre Skulpturen in Handarbeit fertigte. Im Unter – schied zur Minimal Art war Genzken an Assoziationen der Betrachter*innen interessiert, etwa ein Speer, Zahnstocher oder Boot. Mitte der 1980er- Jahre widmete sie sich einem neuen Material: Gips. Sie fertigt kleinere Gipsskulpturen mit Holz, Metall, Papier und Glas. Die improvisierten, höhlenartigen Formen stehen im Gegensatz zur Eleganz und technischen Präzision der hölzernen Ellipsoide und Hyperboloide und wenden sich der Materialität der alltäglichen Welt zu. 1985 schuf Genzken Skulpturen aus Beton, die Weltempfänger mit Antennen verweisen auf die Funktion des gleichzeitigen Sendens und Empfangens.
Genzken setzte sich umfassend mit Architektur und Städtebau auseinander und war besonders von New York und Berlin fasziniert. Ab 1988 entstanden erste Betonskulpturen, die Assoziationen mit dem Städtebau der 1950er- und 1960er- Jahre hervorrufen, wie Le Corbusiers Berliner Unité d’Habitation. 1990 durchbrach sie die Betonskulpturen und entwarf die Werkreihe Fenster, die 1992–1993 in einer Ausstellung mit dem Titel „Jeder braucht mindestens ein Fenster“ von Chicago über Frankfurt und Brüssel bis zum Lenbachhaus in München tourte. In der Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie wird der Dialog von Genzkens Kunst mit der gläsernen Architektur Mies van der Rohes im Spiel mit Innen- und Außen besonders deutlich. 2005 setzt Genzken diese Reihe mit einer Serie von Flugzeugfenstern fort: Ohne Titel (Flugzeugfenster A) ist vielfarbig bemalt, erinnert an große Augen mit Wimpern und unterläuft das traditionelle Verständnis von einem Fenster, das in die Welt hinausschaut – denn es scheint zurückzuschauen und die Betrachtenden zu beobachten.
Die Skulptur X (1992) bezieht sich wiederum auf die Fassade des John-Hancock-Gebäudes in Chicago (1965–69), dessen tragende Teile erstmals in der Außenhaut liegen. Zwischen 1994 und 2003 schuf Genzken eine Reihe von Säulen/Stelen aus Epoxidharz. Auch in diesen Werken zeigt sich ihre Faszination für die Stadt New York. Die collagenartigen Stelen bestehen aus perforiertem Blech auf einer Holzstruktur und sich überlagernden Schichten von aufgeklebten, verspiegelten, holografischen Karten und fotografischen Reproduktionen. Obwohl sie auch einzeln betrachtet werden können, sind die Säulen und Stelen in der Neuen Nationalgalerie in Gruppen installiert.
Die Werkserie Empire/Vampire, Who Kills Death (2003) gilt als Paradigmenwechsel in Genzkens Werk. Wie Filmszenen stehen Figurenkonstellationen auf Sockeln, die zu Bühnen absurder und gewalttätiger Erzählungen werden. Der Titel ist vom Empire State Building abgeleitet, Vampire vom Chrysler Building. Spielzeugfiguren erklimmen kriechend oder kletternd übergroße Vasen und Gläser. Das Weinglas ist ein Symbol für Rituale, Feiern und den Rausch. Die Serie Untitled (2006) nimmt diesen erzählerischen Ansatz auf: Kleinkindpuppen sitzen verlassen unter zerfetzten Sonnenschirmen, die keinen Schutz mehr bieten.
„Die Idee der Narration war immer ein latenter Aspekt in meiner Arbeit. Ich kann relativ kleine Skulpturen machen, die dann eine große, relative Monumentalität erlangen. Das ist eine seltene Eigenschaft. Es erreicht nie eine 1:1-Wirkung, sondern eher die Qualität eines Modells. Die wahre Größe manifestiert sich erst in der Vorstellung des Betrachtenden.“
Isa Genzken 2006
Menschliche Körper spielen in Isa Genzkens Werk von Beginn an eine wichtige Rolle, etwa in Analogien zur Architektur oder im Verhältnis zum Körper der Betrachter*innen. Seit etwa 2007 nutzt sie zunehmend kommerzielle Schaufensterpuppen für ihre Werkgruppe der Schauspieler. Die industriell gefertigten Puppen haben standardisierte Proportionen, ein begrenztes Repertoire an Posen, teilnahmslose Gesichter und gleichförmige Oberflächen. Ausgestattet mit zu großen Helmen und Kopfbedeckungen sind die Schauspieler nicht auf Empfang, sondern auf Abwehr und Schutz vor der Außenwelt ausgerichtet. Viele der verwendeten Kleidungsstücke und Accessoires stammen dabei aus Genzkens eigener Garderobe. „Ich gebe den Schaufensterpuppen etwas von mir. Oft trenne ich mich von einem persönlichen Kleidungsstück“, so Isa Genzken. „Das fällt mir nie leicht; der Schmerz, sich von etwas Geliebtem zu trennen, wird dann aber schnell durch die Freude, dass es einer Schaufensterfigur gut steht, aufgehoben.“
Untitled (2018) ist eine der jüngsten Arbeiten in der Ausstellung und zeigt eine Bodencollage aus Zeitschriften, Zeitungen, Einkaufstüten und Fotografien. Bereits zwischen 1989 und 1991 sammelte Genzken Abbildungen aus „Der Spiegel“ und präsentiert sie aus jeglichem journalistischen und informativen Kontext gelöst. Mit dem Fall der Berliner Mauer, dem Ende des Kalten Krieges und der Zeit vor dem ersten Golfkrieg dokumentiert das Werk eine wichtige Periode der deutschen Geschichte. Massenmedien, Gesellschaftskritik und alltäglich präsente Themen formen einen Körper, der die Betrachter* innen auch unmittelbar anspricht.
„Mit der Ausstellung geht ein Wunsch Isa Genzkens in Erfüllung: 75 Skulpturen treten zu Ehren ihres 75. Geburtstags nun erstmalig mit dem Architekten Mies van der Rohe sowie seinem baulichen Monument der Neuen Nationalgalerie in Berlin, das die Künstlerin ganz besonders schätzt, in den direkten Dialog“, so Klaus Biesenbach und Lisa Botti im Booklet zur Ausstellung. „Diese Ausstellung ist ein Geschenk an Genzken, aber vor allem an Berlin und alle Besucher* innen.“
Ausstellung
Bis 27. November 2023
Isa Genzken. 75 / 75
Veranstaltungen
Am Montag, den 27. November 2023, ist das Museum anlässlich des Geburtstags der Künstlerin für eine Sonderöffnung geöffnet.
Zur Ausstellung wird ein Erkundungspass für Kinder und Familien in Form eines kostenlosen Begleithefts angeboten.
Informationen und Online-Buchungen zu Kurator*innenführungen, Einzelführungen, Gruppenführungen, inklusive Angebote und Workshops unter www.smb.museum/veranstaltungen
Katalog
Isa Genzken 75/75
Berlin, Neue Nationalgalerie, Katalog hrsg. von Klaus Biesenbach & Lisa Botti. Berlin 2023. Beiträge von Giovanni Intra, Diedrich Diederichsen, Donna De Salvo, Sabine Breitwieser. Dieter Schwarz, Tom McDonough Penelope Curtis, Eefke Kleinmann & Manfred Hermes. Interview mit Isa Genzken von Daniel Buchloh & Wolfgang Tillmans. 200 S. durchgehend mit farb. Abb., broschiert – Text in dt. & engl. Sprache, Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König, ISBN 9783753305394.
Kontakt
Neue Nationalgalerie
Potsdamer Straße 50
10785 Berlin
www.smb.museum