Die leise Kunst des Wolfgang Laib im Kunstmuseum Stuttgart
Die Kunst und ihr Material, die beiden gehören zusammen. Aber wenn man bei Material an Stoffe wie Ölfarbe oder Papier, Stahl oder Stein denkt, dann liegt man mit den genannten – oder anderen – physischen Materialien bei diesem Künstler im Grunde ziemlich falsch. Wolfgang Laibs wohl wichtigster Werkstoff ist gänzlich ungreifbar (und letztlich wohl auch unbegreifbar): Es ist die Zeit. Die Zeit, die die Werke vom Betrachter fordern und vor allem die Zeit, die sie den Künstler kosten. Denn was sich so leicht sagt, einfach mal eine Fläche am Boden ausstreuen mit gelbem Blütenstaub, das ist eine enorme Anstrengung. Blütenstaub lässt sich nirgends kaufen, nein, Wolfgang Laib sammelt ihn auf blühenden Wiesen in der Umgebung seines Wohnortes im Süddeutschen: Gelbe Blüte für gelbe Blüte für gelbe Blüte wird dafür kurz angestippt, das Sammelgefäß dabei sorgsam darunter gehalten. Ein zarter gelber Hauch auf dem Boden des Töpfchens und nur gaaaanz langsam, unzählige Blüten später, häuft es sich zum Hügelchen …
Das macht man nicht mal eben so, im Gegenteil, Ortskunde ist dabei vonnöten, wann was wo blüht – und, wie gesagt, die Zeit. Der Künstler sammelt geduldig den kostbaren farbigen Staub über Tage und Monate, sobald es das Wetter erlaubt, von der ersten Frühjahrsblüte bis in den frühen Sommer. Und das seit Jahrzehnten. Vom Sammeln zum Werk: Der Künstler siebt den Blütenstaub zumeist in rechteckiger Form auf den Boden des Ausstellungsraums, manchmal bedeckt er 40 Quadratmeter: Ein leuchtend gelber Teppich, der, wie von innen leuchtend, etwas Magisches ausstrahlt. Dem mühsamen Sammeln und dem vorsichtigen Ausstreuen ist Laib, seit seinen künstlerischen Anfängen in den 1970er-Jahren, treu geblieben. Langweilige Wiederholung? Kein Thema für den Künstler, der gerade darin, in der Wiederkehr des Gleichen, so etwas wie die Essenz des menschlichen Lebens sieht. Das Wesentliche, aber auch das Tragische, indem wir dem Immer-wieder-von-vorne-anfangen-müssen nicht entkommen können.
Das Kunstmuseum Stuttgart lädt zur Einzelausstellung, die den heute international renommierten Künstler – er präsentierte Deutschland 1982 auf der Biennale Venedig, Documenta-Teilnahmen und Ausstellungen weltweit folgten – mit allen wichtigen Werkgruppen umfassend präsentiert. Das Haus an der Königsstraße ist dafür besonders prädestiniert, besitzt es doch im eigenen Sammlungsbestand gleich mehrere exemplarische Arbeiten. Wolfgang Laib wurde 1950 in Metzingen geboren, später zog die Familie ins idyllische Umfeld des oberschwäbischen Bieberach. In der Arztfamilie war man lebhaft interessiert an Fragen der Kunst und Philosophie. Durch einen Freund der Eltern kam Laib schon früh mit fernöstlicher Kultur, Kunst und Philosophie in Kontakt, Themenwelten, die ihn in den Bann schlugen. Nichtsdestotrotz studierte er ab 1968 in Tübingen Medizin. Zunehmend aber wurde der angehende Arzt von Zweifeln befallen, ob das, was er da selbst tue sowie der ganze Kontext der modernen wissenschaftlich-technischen Medizin überhaupt sinnvoll sei. Neben die medizinischen Vorlesungen traten folglich Studien zur östlichen Spiritualität, zu Indologie und Sanskrit. Zwar schloss Laib sein Studium noch ab, übte die Medizin jedoch nie beruflich aus. Zur Heilung des modernen Menschen möchte er stattdessen beitragen mithilfe der Kunst. Er habe, so sagt er selbst, den Beruf eigentlich gar nicht gewechselt, nur das Instrumentarium. Schon während der Medizinerjahre war ein „Brahmanda“ entstanden, ein kosmisches Ei, in der altindischen Philosophie ein Bild des Makrokosmos zu dem der Mensch als Mikrokosmos sich ins rechte Verhältnis setzen muss
Wie kann das hier und heute aussehen? Der 1974 ganz ordentlich zum Doktor der Medizin promovierte Künstler, der sich hinfort der Bildhauerei widmen möchte, hat da eine Idee: Für seine Milchsteine nimmt er rechteckige Marmorplatten, die er in der Mitte leicht aushöhlt, so dass am Außenrand eine kaum wahrnehmbare Kante stehenbleibt. In die minimale Höhlung gießt Laib sodann Milch – Weiß auf Weiß. Die Oberflächenspannung der Flüssigkeit, sorgsam mit dem Finger an den äußersten Rand gezogen, bewirkt eine leichte Erhöhung der flüssigen Oberfläche gegenüber der steinernen Begrenzung. Die Festigkeit und Dauerhaftigkeit des Steins und die Flüssigkeit und Vergänglichkeit der Milch, das Anorganische und das Organische, weiß und weiß – die Wirkung der im Grunde ganz sparsamen Mittel ist schon verblüffend, so leise wie tatsächlich auf eine Art auch erhaben. Sie kann zum Nachdenken, nein, besser: zum Nachspüren jener Kräfte führen, die im Gegen- und Miteinander die Welt ausmachen. Der künstlerischen Initialzündung seiner Milchsteine ist Laib treu geblieben. Statt auf die hektische Suche nach dem nächsten Knaller setzt er auf Kontinuität. Die Dauer allerdings kommt nicht von selbst. Einmal vollendet ist der Stein nun zwar dauerhaft, aber das heikle Spiel – man könnte auch sagen: das Ritual – der Füllung muss bei jeder einzelnen Ausführung erneut – und unentwegt fortgeführt werden wegen des ständigen Verdunstens der Milch. Die Vergänglichkeit – mit anderen Worten und ganz banal, die schnöde Tendenz zum Ranzigwerden – der organischen Flüssigkeit macht das ständige Kümmern zur Bedingung. Man könnte vielleicht sagen, dass es Laib hier gar nicht um ein Werk im Sinne eines (wie auch immer beschaffenen) Artefaktes geht, um kein Produkt, sondern um den in die Zeit ausgreifenden Prozess. Und zwar auf beiden Seiten, beim Künstler wie auch beim Besitzer und Betrachter. Und dessen Resultat könnte man beschreiben mit Stille oder, um ein ganz unmodernes Wort zu wählen, mit Demut.
Eine andere Erfahrungsmöglichkeit bieten die Wachsräume. Wieder haben wir ein mühsam zu gewinnendes und kostbares Naturprodukt: Aus dem Bienenwachs, das Laib zunächst zu im engeren Sinne skulpturalen Werken verarbeitete, wurden bald ganze Räume, ringsum ausgekleidet mit geruchsintensiven Wachsplatten. Der Geruch – eine Dimension, die ja herkömmlich in den Künsten nur randständig vorkommt – sorgt bei diesen ortspezifischen Arbeiten für eine beinah betäubende sinnliche Erfahrung. Umso schöner, dass die Stuttgarter im Untergeschoss seit 2005 mit ihrem Laib‘schen Wachsraum einen solchen Erfahrungsort bieten können, der jetzt zum Teil der Ausstellung wird. Die neueren Zikkurats, aus Wachs modelliert wie die Türme des Schweigens besetzen, von der autarken Form ausgehend, einen Übergang zur Architektur. Der Bezug zum (in diesem Falle vorder-) asiatischen Kulturkreis ist einmal mehr auffällig, die Stufenpyramiden und die dem mazdaistischen Kultus heiligen Turmbauten (eigentlich Orte des Totenkultes) sind Architekturen, die aufs höchste skulptural sind und darauf aus, die fragile Existenz des Menschen zu verzahnen mit der nun nicht unbedingt himmlischen, sondern wohl eher im allgemeineren Sinne spirituellen Sphäre.
Asien: Welches Nahrungsmittel könnte asiatischer sein als der Reis? Bei seinen Reishäusern sucht Wolfgang Laib gleichfalls die beiden Dimensionen des Irdischen und des Metaphysischen zu verschränken und wieder finden wir den rituellen Akt der Ausschüttung. Auch im persönlichen Leben (das er im Übrigen streng abgeschlossen hält von jeglicher Öffentlichkeit) ist Asien präsent: neben dem schwäbischen Stammquartier verbringt der Künstler einen Teil des Jahres in Südindien. Begleitend zur Ausstellung offeriert das Stuttgarter Kunstmuseum nicht nur eine Buchpublikation zu Laibs gesamtem Denken und Schaffen, sondern zusätzlich einen eigens produzierten Film. Here, Now and Far Beyond (während der Öffnungszeiten zu sehen) gewährt Zugang zu einer zugleich leisen wie immer wieder eigentümlich intensiv präsenten Künstlerpersönlichkeit: Es lohnt sich, ihn anzuschauen!
Auf einen Blick
Ausstellung
Bis 5. November 2023: Wolfgang Laib. The Beginning of Something Else
Katalog
Wolfgang Laib. The Beginning of Something Else
Ulrike Groos, Kunstmuseum Stuttgart, Anne Vieth (Hrsg.), Klappenbroschur m. SU, dt./engl., 352 S. m. 150 Abb. in Farbe, 13,2 x 18 cm, Hirmer Verlag, ISBN 9783777441962
Kontakt
Kunstmuseum Stuttgart
Kleiner Schlossplatz 1, 70173 Stuttgart
www.kunstmuseum-stuttgart.de