Ausstellung

Die strenge Lyrik des Aldo Rossi

Die Berliner Tchoban Foundation und ihr Museum für Architekturzeichnung

Bekannt und doch nicht bekannt: Das Quartier Schützenstraße (Ecke Friedrichstraße) gehörte zu den prägnantesten und damals auch umstrittensten Bauten des neuen Berlin der Nachwendezeit. Der italienische Architekt Aldo Rossi hatte für seine Blockbebauung (1994–1997) mit ihrer gemischten Nutzung von Wohn-, Büro- und Ladenflächen eine Formsprache eingesetzt, die der Moderne verpflichtet war und sich gleichzeitig mit einem visuell starken Statement auf die Geschichte der Baukunst bezog: Ein Durchgang zum Innenhof zitierte ganz ungeniert Michelangelos Fassadengliederung am römischen Palazzo Farnese. Die Aufregung hat sich mittlerweile gelegt, Rossis Bau ist zum Berliner Alltag geworden. Umso spannender aber, dass die Tchoban Foundation in ihrem Museum für Architekturzeichnung nun einen eher unbekannten Rossi präsentieren kann: „Aldo Rossi. Insulae“ versammelt gut 110 grafische Werke und vor allem Zeichnungen des italienischen Architekten, die zumeist erstmalig öffentlich präsentiert werden.

Ein Museum für die Kunst der architektonischen Zeichnung

Aber halt – ein moderner Architekt, der mit der Hand zeichnet? Seit langem ist doch in jedem Architekturbüro der Computer mit immer raffinierteren Programmen das angesagte Mittel der Wahl zur Visualisierung geplanter Bauten, oder? Wer sollte sich im Zeitalter des rechnergestützten Entwerfens noch mühsam einarbeiten wollen in den fachgerechten Umgang mit Bleistift, Feder und farbiger Tusche? Genau hier setzt die Tchoban Foundation an: Ins Leben gerufen wurde sie 2009 vom Architekten Sergej Tchoban (*1962 Leningrad), einem leidenschaftlichen Sammler von Architekturzeichnungen. Er ist selbst begeisterter Zeichner und lernte dieses eigenwillige Sub-Genre der Zeichenkunst lieben in den 1980er-Jahren während seines Studiums im heute wieder so benannten St. Petersburg. Nach dem Umzug nach Westdeutschland Anfang der 1990er entwickelte der inzwischen mit diversen Auszeichnungen bedachte Architekt seine Baupraxis (in Berlin, aber nicht nur dort). Der eher zufällige Erwerb einer Zeichnung des Baumeisters Pietro di Gottardo Gonzaga aber – dessen Lebensweg übrigens führte im 18. Jahrhundert von Venetien nach St. Petersburg – gab den Anstoß zum Aufbau einer heute zahlreiche Werke aus verschiedenen Epochen umfassenden Sammlung. Vom 16. Jahrhundert geht es über die großen Namen der Moderne des 20. Jahrhunderts bis hin zu prononcierten Positionen der aktuellen Szene.

Die 2009 gegründete Tchoban Foundation hat es sich zur Aufgabe gemacht, nicht nur historische Architekturzeichnungen zu sammeln, sondern auch diese große Tradition im Zeitalter des Computers lebendig zu erhalten. Werke aus der Sammlung gehen an renommierte Institutionen weltweit als Leihgaben, vor allem aber werden wechselnde Ausstellungen im eigenen Haus veranstaltet. Dieses konnte 2013 als Museum für Architekturzeichnung eröffnet werden im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Das ehemalige Industrieareal – die Brauerei Pfefferberg hatte hier ihr Quartier – wird heute überwiegend kulturell genutzt von Galerien, Künstlerateliers und ähnlichen Einrichtungen. Aus dem unter Denkmalschutz stehenden Gebäudebestand sticht das Museum für Architekturzeichnung heraus, ein kompakter fünfgeschossiger Stapel aus leicht gegeneinander verschobenen Boxen. Deren oberste kragt zur Seite deutlich aus und ist als einzige verglast. Die geschlossenen Wände der unteren Etagen sind erstellt im Sichtbetonguss. Aber was für ein Guss! Denn anstatt der schnöden Spuren gewöhnlicher Schalung findet sich auf den Außenflächen ein vertieftes Relief: die stark vergrößerten Ausschnitte architektonischer Zeichnungen! Die überdimensionierten Linien sind elegant-lebendiger Flächendekor, verweisen vor allem aber auf den Inhalt des Gebäudes, das Archiv und die Ausstellungsräume. Innen dominiert warmes Nussbaumholz, eine Atmosphäre, die der konzentrierten Betrachtung der ausgestellten Werke förderlich ist. Diese verwenden zumeist Papier als Bildträger. Schon das Logo von Haus und Stiftung erzählt von der liebevollen Hingabe ans Thema Architekturzeichnung: Ein großes „T“ umreißt ein korinthisches Kapitell, wie aus einer Zeichnung herauspräpariert!

Die Handzeichnung hat eine ureigene Qualität und Funktion im architektonischen Formfindungs- und Präsentationsprozess: Davon sind Gründer Sergej Tchoban und seine beiden Stiftungskuratorinnen, Kristin Feireiss und Eva-Maria Barkhofen, fest überzeugt. Gerade die Handzeichnung könne wie kein anderes Bildmedium im sozusagen direkten Draht zwischen Kopf und Papier die Imagination befördern – beim zeichnenden Architekten wie beim Betrachter. Und tatsächlich, erstaunlicherweise benutzen auch heutige Großmeister der computergestützten Baukunst, wie etwa Frank Gehry mit seinen rasant unregelmäßig geschwungenen Baukörpern, zur ersten skribbelnden Ideenfindung gerne Stift und Papier. Jährlich zumeist drei Ausstellungen aus dem reichen Eigenbestand des privaten Museums, bereichert mit Leihgaben, vermitteln diese Kunst dem Besucher. Um die Bandbreite der anspruchsvollen Ausstellungsprojekte des Hauses zu illustrieren, genügt ein Blick auf die letzten beiden: Da ging es einmal um die „Klassischen Ordnungen: Mythos, Sinn und Schönheit bei Sir John Soane“. Und vor dem britischen Klassizisten lud „Akira. Neo-Tokyo“ zum Ausflug in die ziemlich ungemütliche Welt der japanischen Science Fiction-Animes.

Moderner Razionalismo

Und jetzt also Aldo Rossi (1931–1997). Der Mailänder Baumeister gehört zu den maßgeblichen Designern und Architekten des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Bemerkenswert dabei, dass sein Interesse zunächst gar nicht einmal der eigentlichen Baupraxis galt, sondern der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Wesen des gebauten Raumes. Die von ihm eingeführten Begriffe wie Morphologie und Typologie des Bauens bestimmten lange die internationale Diskussion. Drei Kapitelüberschriften gliedern die Schau im Tchoban Museum: Da ist zunächst der „Corpus Mediolanensis“, Zeichnungen und Grafiken vor allem zum frühen gebauten Werk also, das sich im Wesentlichen im Großraum Mailand findet (die Entwürfe etwa zum Rathausplatz mit dem Denkmal der Resistenza für Segrate oder dem erhaben-grandiosen Friedhof von San Cataldo/Modena). Die titelgebende Insula, die Insel, bekanntlich die Bezeichnung altrömischer Mietshäuser, meint hier aber vor allem den für Rossi so wichtigen Bezug auf antike Vorbilder ganz allgemein, ihre Strenge und Ordnung.

Das war in den 1970er-Jahren eine Außenseiterposition, wollte man doch damals den Bruch mit der Vergangenheit zugunsten zukunftsfroh-utopischer Baukonzepte. Der Bezug zur Tradition brachte den Pritzkerpreisträger denn auch in Kontakt zur Bewegung der Postmoderne: Sein Teatro del Mondo, eine schwimmende Konstruktion, halb Theater, halb Leuchtturm, wurde zum prägnanten Wahrzeichen der ersten Architektur-Biennale in Venedig 1980, die den vielbeachteten, ersten Auftritt der Postmoderne brachte. „Werke für Berlin“ schließlich umfasst verspielte Skizzen zu den diversen Projekten Rossis für die Stadt. Einige davon, wie das eingangs erwähnte Quartier Schützenstraße gelangten zur Ausführung, andere, wie das Projekt zum Deutschen Historischen Museum, blieben Entwurf. Die in Kooperation mit der italienischen Fondazione Aldo Rossi erarbeitete Ausstellung lädt ein, den Großmeister eines erneuerten Razionalismo, der sich gleichermaßen aus der Kenntnis der Vergangenheit wie dem Mut zur Zukunft speist, im intimen Medium der Zeichnung noch einmal ganz von Nahem kennen zu lernen.

Auf einen Blick

Ausstellung: Aldo Rossi. Insulae

Dauer: bis 14. Mai 2023
Ort: Tchoban Foundation – Museum für Architekturzeichnung
Christinenstraße 18a, 10119 Berlin, Tel. +49-(0)30-43739090

Öffnungszeiten: Mo–Fr 14.00–19.00 Uhr, Sa & So 13.00–17.00 Uhr.
In der ausstellungsfreien Zeit bleibt das Museum geschlossen.

Information: www.tchoban-foundation.de

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