Isamu Noguchi im Kölner Museum Ludwig
Er schuf Skulpturen, Möbel, Lampen, Bühnenbilder, Gärten, städtische Plätze: Der amerikanisch-japanische Künstler Isamu Noguchi war ein „Renaissance Man“! Das meint nicht nur die enorme Vielfalt seiner Themen, sondern auch den zugrundeliegenden zivilisatorischen Optimismus, den er mit den italienischen Kollegen des 16. Jahrhunderts teilt. Vielleicht gibt es ein Werk, in dem alle Stränge dieses so schöpferischen Lebens zusammenlaufen: Sculpture to be seen from Mars stellt ein schematisch vereinfachtes menschliches Gesicht mit markant ausgeprägter Denkerstirn dar. Die einzelnen Elemente erheben sich aus flachem Grund als Relief, das seine Lebendigkeit erst aus der perspektivischen Wahrnehmung und dem Schattenwurf gewinnt. Die Dimensionen sind gigantisch (die Nase allein eine Meile!): Sie müssen es auch sein, denn die Darstellung soll von fernen Planeten aus gelesen werden, soll für deren Bewohner einladendes Zeugnis ablegen vom intelligenten Lebens auf der Erde. Dessen tatsächliches Vorkommen allerdings lässt sich ja bekanntlich immer wieder mit gutem Grund bezweifeln, aber dazu später mehr …
Das Kölner Museum Ludwig gibt bis zum Sommer beste Gelegenheit, den Künstler kennenzulernen. Die Ausstellung, die erste umfassende Retrospektive in Europa seit über 20 Jahren, zeigt Arbeiten aus allen Schaffensperioden und allen Gattungen, in denen der umtriebige Noguchi unterwegs war. „Noguchis Denken war in jeder Hinsicht grenzüberschreitend, transnational und radikal interdisziplinär“, betonen die Kuratoren. Zu den Grenzen, die er nicht anerkennen mochte, gehörte aber vor allem die zwischen Kunst und Leben. Die Ausstellung entstand in Zusammenarbeit mit dem Londoner Barbican, dem Zentrum Paul Klee in Bern (23.9.2022–8.1.2023) und dem LaM im französischen Lille (17.3.–3.7.2023).
Der Sohn einer amerikanischen Schriftstellerin und eines japanischen Dichters wurde 1904 in Los Angeles geboren, wuchs in Japan auf und kam zum Schulbesuch zurück in die USA. Zwischen den beiden Kulturen spielte sich sein Leben ab. Ihre Gegensätze wurden ihm schmerzlich bewusst – wie er zeitlebens von der Möglichkeit (mehr noch: der Notwendigkeit) ihrer gegenseitiger Befruchtung und Bereicherung überzeugt blieb. Dank eines Stipendiums wurde Noguchi Ende der 1920er-Jahre in Paris Assistent bei Constantin Brancusi, dessen Sensibilität für die Qualitäten der bildhauerischen Materialien den jungen Künstler nachhaltig beeindruckte. Stein, Holz, polierte Bronze – im dialogischen Spiel zwischen ihnen konnten sich ganze bildnerische Horizonte auftuen. Auch das Konzept des Reliefs, der Entwicklung von (scheinbarer) Plastizität aus der Fläche heraus, begegnete ihm hier. Auf die Pariser Zeit – er sollte später noch oft in die Stadt zurückkehren – folgten weitere Reisen. In Japan und China war es, neben der Keramik, besonders die traditionelle Pinselzeichnung, die Noguchi eingehend studierte.
Tradition und Moderne: Von der beim Kendo, dem japanischen Schwertkampf, getragenen Maske kam die Anregung für einen Vorläufer der heute bekannten Babyphones: Radionurse (1937), im Spritzguss gefertigt aus dem Kunststoff Bakelit. Asiatische Konzepte flossen ebenso ein in die Garten- und urbanen Parkanlagen, die Noguchi in dieser Zeit entwarf – dem Thema Garten sollte er bis zu seinem Tode 1988 treu bleiben. Das ihm gewidmete (und noch von ihm selbst eingerichtete) Personalmuseum Isamu Noguchi Garden Museum in der ehemaligen Arbeitsstätte des Künstlers in Long Island City, New York lässt noch heute nachdrücklich die Bedeutung eines Garten als spiritueller Ort erleben, für Noguchi gerade in der Industriegesellschaft unverzichtbar. In Vorwegnahme der späteren Land Art war für ihn die Landschaft nicht nur dienender Hintergrund skulpturaler Setzungen (wie in den Skulpturenparks der Nachkriegszeit), sondern Gegenstand der künstlerischen Gestaltung in eigenem Recht. Ein Garten lässt sich nur in der eigenen Bewegung des Betrachters in seiner Räumlichkeit erfahren – das Interesse an Bewegung führte den Künstler zur Kooperation mit Größen des modernen Ausdruckstanzes wie Martha Graham.
Die autonome Skulptur kam indes nicht zu kurz: Noguchis originellsten Ansatz hier verkörpert eine sehr umfangreiche, gleichfalls seit den 30ern entstandene Werkreihe, die ihr Aufbauprinzip schon im Namen verrät. Die Interlocking Sculptures bestehen aus flachen Steinplatten mit unregelmäßigem Umrissen. Eingeschnittene Schlitze am Rand, nach außen offen, ermöglichen das Einhängen weiterer Platten mit entsprechend korrespondierenden Schlitzen, in die wiederum weitere Elemente eingesetzt werden. Die lose eingehängten Platten stehen jeweils rechtwinklig zu den sie aufnehmenden Elementen – wie ein Bausatz, bei dem „Lasche A“ in „Schlitz B“ zu stecken ist. Die Montage kommt ohne technische Verbinder wie Dübel oder Schrauben aus, sie hält allein durch das Eigengewicht der Teile. Die Balance ist freilich eine fragile, eine immer wieder gefährdete (oder neu zu gewinnende). Spannung liegt im Gegensatz zwischen der Rechtwinkligkeit der Verbindungen und der mal weichkurvigen, mal knochigen Unregelmäßigkeit der einzelnen Platten, die an surrealistische Formen erinnern. Aus der Fläche entsteht eine dreidimensionale Form, die vage an eine menschliche Gestalt erinnert. Wie bei den Gartenräumen Noguchis wird bei den Interlocking Sculptures, mit all ihren multiplen Durchbrüchen, der Umraum durch die sich öffnenden Sichtbeziehungen zum Teil des Werkes.
Mit seinem Konzept der Steck-Skulpturen wurde der Künstler auch in Europa als wichtiger Vertreter der modernen amerikanischen Bildhauerei wahrgenommen: Auf der documenta II (1959) und documenta III (1964) beeindruckten sie das Publikum. Das Steckprinzip ließ sich bestens übertragen (zurück?) auf den Möbelbau: Der Coffeetable (1944) aus zwei sich nur in einem Punkt berührenden, Boomerang-ähnlichen Holzelementen, die die unregelmäßig runde Glasplatte tragen, hält nur dank der Schwerkraft. Die Stilikone der „organischen Form“ war ein nachhaltiger Markterfolg und ist noch heute in Produktion.
Langlebigkeit zeichnet eine weitere Erfindung des Designers Noguchi aus: Auf einer seiner Reisen nach Japan machte er sich im Städtchen Gifu, einem Zentrum traditioneller Papierverarbeitung, mit den dortigen Techniken vertraut. Resultat waren die Akari Light Sculptures, für die ein aus Bambusruten geformtes Rippenwerk mit Maulbeerpapier bespannt wird. Nach dem Trocknen wird die formgebende Lehre entfernt, die Leuchte kann zusammengelegt auf die Reise zum Kunden gehen. Ein Logo aus Sonne und Mond, grafisches Kürzel und zugleich den entsprechenden japanischen Schriftzeichen ähnlich, garantiert „Original-Noguchi“ (im Gegensatz zu den zahllosen Kopien, die den Markt bevölkern). „Die Magie des Papiers verwandelt die kühle Elektrizität zurück ins ewige Licht der Sonne. Damit ihre Wärme auch in der Nacht weiter unsere Räume füllen kann“, zitiert der Prospekt der Firma Vitra (sie vertreibt heute die Leuchten) den Entwerfer.
Eine zutiefst humanistische Vision ist Kern der schöpferischen Energie Isamu Noguchis. Die teilt er mit seinem Freunde Buckminster Fuller, den er als Büste porträtiert – in verchromtem Hochglanz. Das Schöpfer-Ich entgegenständlicht sich, es wird zum Spiegel des Betrachters. Der zivilisatorische Optimismus aber bekommt für Noguchi Risse: seine eigene halbjährige Internierung nach dem Angriff auf Pearl Harbour, die Atombomben auf Japan. Vielleicht ist das unverwirklichte Projekt des menschlichen Gesichts to be seen from Mars gar keine Einladung an freundliche Aliens, uns zu besuchen, sondern eher ein Abgesang auf das Anthropozän?
Auf einen Blick
Ausstellung: Isamu Noguchi
Ort: Museum Ludwig, Heinrich-Böll-Platz, 59667 Köln
Heinrich-Böll-Platz
59667 Köln
Dauer: bis 31. Juli 2022
Internet: https://museenkoeln.de/portal/Isamu-Noguchi
Öffnungszeiten Hauptbau & Neubau:
DI.–SO, Feiertage. 10:00 –18:00 Uhr
jeden 1. Donnerstag im Monat 10.00–22.00 Uhr
Katalog
Isamu Noguchi
Fabienne Eggelhöfer (Hrsg.), Rita Kersting (Hrsg.) und Florence Ostende (Hrsg.), mit Beiträgen von Dakin Hart, Fabienne Eggelhöfer, Rita Kersting & Nana Tazuke-Steiniger, Florence Ostende und einem Gespräch zwischen Karen L. Ishizuka, Katy Siegel, Danh Vō und Devika Singh, deutsche und englische Ausgabe, Hardcover, Pappband, 320 S., ca. 350 farb. Abb., 23 x 27 cm, Prestel Verlag, ISBN 9783791379265