Ausstellung

Vom Romantiker zum Klassenkämpfer

Vier Museen in Worpswede feiern Heinrich Vogeler mit der Jubiläumsausstellung „Der Neue Mensch“.

Sommerabend (Das Konzert), ein solcher Bildtitel klingt heiter und entspannt, verheißt kultiviertes geselliges Beisammensein, untermalt von Musik, die im Freien dargebracht wird. Heinrich Vogelers gleichnamiges Monumentalgemälde allerdings durchkreuzt solche Erwartungen rigoros. Als der Künstler, um die Jahrhundertwende einer der erfolgreichsten Protagonisten des Jugendstils, das Bild 1905 malte, geriet ihm das Gruppenporträt eher zum Requiem als zur Serenade. Auf der Terrasse vor seinem Barkenhoff in Worpswede vereint die Darstellung ein musizierendes Trio und einen intimen Zuhörer-Kreis: Rechts sind Vogelers Brüder Franz und Martin mit Geige und Querflöte zu erkennen, dazwischen, kaum sichtbar, der Künstler selbst am Cello. Links lauschen seltsam teilnahmslos einige Freunde, nämlich Paula Modersohn-Becker, Agnes Wulff, Otto Modersohn und Clara Rilke-Westhoff. Doch scheinen sie ins Abseits gerückt, richtet sich die Aufmerksamkeit des Betrachters doch in erster Linie auf das Zentrum des Bildes. Hier ist Martha Vogeler, die Frau des Malers, auf der mit Pflanzen geschmückten Freitreppe des Barkenhoff ähnlich einer Statue in Szene gesetzt; zu ihren Füßen ein russischer Windhund, gleichsam zur Salzsäule erstarrt wie die gesamte Gesellschaft.

Das Bild kündet von Vereinzelung, vom Ende einer Idylle, welche die Künstlerkolonie Worpswede noch um 1900 als irdisches Paradies hatte erscheinen lassen. Dessen Lockruf folgten Schriftsteller wie Carl Hauptmann, Thomas Mann und Rainer Maria Rilke. Heinrich Vogeler, der Zeremonienmeister dieser ebenso hochgestimmten wie lebensfernen idealen Welt, steht nun im Zentrum einer Gemeinschaftsausstellung, die vier Worpsweder Museen organisiert haben.

Den Anlass der Retrospektive „Heinrich Vogeler. Der Neue Mensch“ bildet der 150. Geburtstag des Künstlers (1872–1942). Der Barkenhoff (Birkenhof), wo er mehr als drei Jahrzehnte (1895 bis 1931) lebte und arbeitete, ist Schauplatz der Ausstellungssektion „Werden“ – sie lässt das von Extremen gekennzeichnete Leben und Schaffen des Künstlers Revue passieren. Im Gebäude der sogenannten Großen Kunstschau, 1927 von Bernhard Hoetger im expressionistischen Stil errichtet, erkundet ein „Historischer Teil“ Vogelers Rolle innerhalb der Worpsweder Künstlerkolonie. Derweil stellt der „Neue Teil“ der Großen Kunstschau den Bezug zur Gegenwart her: Arbeiten von 19 Künstlern fragen, welche Rolle die Kunst in gesellschaftlichen Umbruchzeiten spielen kann. Vogeler, den die traumatische Erfahrung des Ersten Weltkriegs zum Pazifisten und Kommunisten machte, erscheint hier als Galionsfigur politisch engagierter Kunst. Als Initialzündung für Künstler wie Sokari Douglas Camp, Kristian von Hornsleth, Larissa Koop & Florian Aschka oder Jannine Yara Said dient vor allem sein Gemälde „Anbruch einer neuen Zeit“.

Abgerundet wird der weitgesteckte Parcours durch die Ausstellungen „Kunst für alle“ in der Worpsweder Kunsthalle (hier geht es um das grafische Werk Vogelers) und „Das Leben gestalten“ im Haus im Schluh (gewidmet der Angewandten Kunst des Jugendstil-Meisters).

„Vielseitig“, dieses Adjektiv ist bei Heinrich Vogeler eine glatte Untertreibung. Als Maler, Grafiker, Designer und Architekt feierte er in der Epoche des Jugendstils große Erfolge. Doch in dem Romantiker, der in seinen Bildern eine Mythen- und Märchenwelt heraufbeschwor, steckte zugleich ein Sozialreformer und Pädagoge. Der Kriegsfreiwillige, durch die erschütternde Erfahrung des Ersten Weltkriegs zum Pazifisten geworden, mischte sich ein in die Politik, ergriff energisch Partei. 1918 richtete er sogar einen öffentlichen Friedensappell an den deutschen Kaiser Wilhelm II., worauf er für rund 60 Tage in die Bremer Psychiatrie eingewiesen wurde. Als Kommunist und Antifaschist suchte er sein Heil in der Sowjetunion, ließ sich anscheinend bedenkenlos instrumentalisieren und stellte seine künstlerischen Fähigkeiten in den Dienst der Propaganda.

1872 als ältester Sohn des Eisenwarengroßhändlers Carl Eduard Vogeler und seiner Ehefrau Marie Luise in Bremen geboren, beginnt der 18-Jährige ein Studium an der Kunstakademie Düsseldorf. Vier Jahre später, 1894, erfährt sein Leben eine entscheidende Wendung: Im Mai besucht er die im Teufelsmoor (nordöstlich von Bremen) gelegene Künstlerkolonie Worpswede, wo Fritz Mackensen, Otto Modersohn, Hans am Ende und andere Aussteiger ihr Ideal einer Idylle fernab der Stadt zu verwirklichen suchen. Zugleich begegnet er dort seiner Muse und späteren Ehefrau Martha Schröder. Schon im Jahr darauf erwirbt er den Barkenhoff, den er zu einem Gesamtkunstwerk des Jugendstils umgestaltet. Der dortige „Weiße Saal“ avanciert um 1900 zum Sammelpunkt eines Freundeskreises aus Künstlern und Intellektuellen. Damals entstehen seine organischen, fein ziselierten Illustrationen für die Zeitschrift „Die Insel“ – sie zählen zu den besten Beispielen des Buchschmucks im Fin de Siècle. Einen weiteren Höhepunkt des Jugendstil-Œuvres markiert 1905 die Ausgestaltung der Güldenkammer im Bremer Rathaus.

1901 heiratet Vogeler die Worpsweder Lehrertochter Martha Schröder: Als zentrale Symbolfigur seiner bild- und wortreich beschworenen „Insel des Schönen“ erscheint die Muse und Mutter dreier Töchter in zahlreichen Bildern. Doch mit seiner hehren Insel-Vision erleidet er Schiffbruch. Mehr und mehr fühlt sich Martha Vogeler von ihrem Mann in ein lebensreformerisches Korsett gezwängt. Schließlich bricht sie aus, beginnt 1910 eine Liebesbeziehung mit dem Schriftsteller Ludwig Bäumer (der pikanterweise im Barkenhoff Stammgast ist) und trennt sich von ihrem Mann – 1926 erfolgt die Scheidung. 1920 zieht sie in das benachbarte Haus im Schluh. Einen Großteil der Kunstwerke und Möbel des Barkenhoffs nimmt sie mit. Weil Heinrich Vogeler dem Klassenkampf längst mehr Gewicht beimisst als der Ästhetisierung der Lebenswelt, lässt er es bereitwillig geschehen.

Aus dem Ersten Weltkrieg geht er als ein anderer Mensch hervor. Wie so viele Künstler und Intellektuelle, die 1914 dem Ruf an die Front folgten, weil sie sich vom Krieg eine reinigende Wirkung, ein Hinwegfegen der ‚verderbten‘ Zivilisation versprachen, wird der Militärmaler bald eines Besseren belehrt. Davon zeugen in der Worpsweder Jubiläumsausstellung Werke wie Das Elend des Krieges, Die Kriegsfurie oder Die Leiden der Frau im Kriege. Sein 1918 veröffentlichter Protestbrief an Kaiser Wilhelm II., betitelt „Das Märchen vom lieben Gott“, zieht wohl bloß wegen der Prominenz des Künstlers keine drakonische Bestrafung nach sich. „Demut an die Stelle der Siegereitelkeit – Wahrheit anstatt Lüge! Aufbau anstatt Zerstörung“, diese Worte aus Vogelers Appell wirken heute, im Angesicht des Ukraine-Krieges, aktueller denn je.

Als die Siedlungskommune, die Vogeler 1919 auf dem Barkenhoff gegründet hat, in finanzielle Turbulenzen gerät, wirft er dort das Handtuch, überlässt das Anwesen der „Roten Hilfe Deutschland“ und lebt seitdem vorwiegend in Berlin. Gemeinsam mit seiner zweiten Frau, der polnischen Kommunistin Sonja Marchlewska, reist er 1923 erstmals nach Moskau, wohin er 1931 dauerhaft übersiedelt. Dort engagiert er sich unter anderem im „Komitee für Standardisierung des Bauwesens, Gruppe Landwirtschaftliches Bauen“, schreibt Kunstkritiken für die „Moskauer Rundschau“ und verklärt in seinen Bildern das landwirtschaftliche und industrielle Leben im Riesenreich. Voller Enthusiasmus begrüßt der Staatskünstler den Aufbau der Sowjetunion – vor dem wahren Antlitz des Stalin-Terrors verschließt er das Gesicht. In dem 1923 gemalten säkularen Glaubenszeugnis Die Geburt des Neuen Menschen verleiht er seiner Weltanschauung Ausdruck: Das christliche Sujet der Muttergottes mit Kind, die Apotheose der russischen Revolution und die prismatisch gebündelten Formsprache des Kubismus formen eine bizarre Melange. „Komplexbilder“ nannte er selbst diesen Stil. Ähnliche, heute bemüht anmutende Bildschemata finden sich in etlichen seiner Werke, die in den letzten 15 Jahren seines Lebens entstanden. Beispielsweise im Winterkulturkommando der Arbeiterstudenten auf einem Sowjetgut (1924) oder im Bild Der Aufbau der zentralasiatischen Sowjetrepubliken (1927). Von dem zauberhaft-zarten Melusine-Triptychon, das Vogeler um 1912 schuf, hat er sich hier Lichtjahre entfernt.

Heinrich Vogelers Ende ist traurig. Nach dem deutschen Überfall auf Russland am 22. Juni 1941 landet der Künstler auf der „Sonderfahndungsliste UdSSR des Reichssicherheitshauptamtes“. In Moskau scheint er akut gefährdet. Die Alternative, die Zwangsevakuierung nach Kasachstan, wo ihn das Regime bei Kolchosbauern einquartiert, erweist sich jedoch als ebenso existenzvernichtend. Weil seine Rente nicht ausgezahlt wird, weigert sich Vogelers Gastfamilie, den 68-Jährigen weiter zu versorgen. In einem Brief, den er aus dem Exil an seinen Sohn Jan Vogeler schreibt, klagt er: „Mein ganzer Zustand ist der eines alten räudigen Hundes, der auf den Tod zu warten hat – Dabei bin ich so erfüllt von Arbeitswillen und Ideen, dass mir der Abschied aus allem und die Trennung von dir so schwerfällt.“ Völlig entkräftet und halb verhungert stirbt Heinrich Vogeler am 14. Juni 1942 in einem Krankenhaus in der Nähe der Kolchose. Sein Grab ist bis heute unauffindbar.

Ausstellung

„Heinrich Vogeler. Der Neue Mensch“

Jubiläumsausstellung der Worpsweder Museen

Dauer: bis 6. November 2022

Internet: https://vogeler22.de/

Orte

Barkenhoff, Ostendorfer Straße 10, 27726 Worpswede

Große Kunstschau Worpswede, Lindenallee 5, 27726 Worpswede

Worpsweder Kunsthalle, Bergstraße 17, 27726 Worpswede

Haus im Schluh, Im Schluh 35–37, 27726Worpswede

Der Film zur Ausstellung

Am 12. Mai kommt der Film „Heinrich Vogeler – Aus dem Leben eines Träumers“ in die Kinos. In dem Biopic kombiniert die Regisseurin Marie Noëlle Spielfilm-Elemente und Dokumentarisches. Florian Lukas verkörpert Heinrich Vogeler, Anna-Maria Mühe spielt Martha Vogeler, und Naomi Achternbusch schlüpft in der Rolle von Paula Modersohn-Becker.

Internet: https://www.heinrichvogeler-derfilm.de/

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