Das Gehen als schöne Kunst betrachtet in der Frankfurter Schirn Kunsthalle
Das spanische Wort „Pasajes“ heißt Durchquerung, Überquerung, eines Territoriums etwa. In Sebastián Díaz Morales‘ (*1975 Comodoro, AR) Videoarbeit Pasajes III sehen wir eine menschliche Gestalt zu Fuß eine ansonsten völlig leere, ziemlich bröselige Hochstraße queren. Der Tiefenzug entlang der Straße wird durch Lichtmasten verstärkt, nur um dann umso gnadenloser abzuprallen an den düsteren Hochhäusern, die dicht gestaffelt den Blick abschließen. Das Gehen, die ursprünglichste und simpelste Fortbewegung des Menschen, wird in dieser Umgebung zu etwas völlig Absurdem: Wo sind die Autos geblieben? Wozu und wohin sollte irgendjemand hier eigentlich gehen? Der einsame Fußgänger scheint nach einer Apokalypse übrig geblieben inmitten der Relikte der Zivilisation … Leicht könnte man vermuten, das Bild sei eines der zahlreichen verblüffenden Zeugnisse aus dem Corona-Lockdown, aber weit gefehlt, es stammt aus dem Jahr 2013 – und es ist eine Montage, digitale Fiktion denkbarer Welten: urbaner Raum als Raum des Möglichen. Eine überraschende Volte nur, dass zu Corona-Zeiten das denkbar Mögliche zum Wirklichen geworden ist, der Fußgänger auf der Autostraße kurzzeitig Realität …
Die Kunsthalle Schirn in Frankfurt macht das Gehen zum Thema: „WALK!“ versammelt bislang verstreute künstlerische Positionen und bringt sie erstmals in systematischen Zusammenhang. Die Ausstellung ist mit rund 40 Positionen (und 100 Exponaten) international besetzt: Künstlerinnen und Künstler, in deren Arbeit (in diversen Medien) das Zu-Fuß-Gehen ein wesentliches Element darstellt. Tatsächlich beschäftigen sich Künstler schon lange mit dem Phänomen des Gehens. Ein radikaler Gedanke ist hierbei naheliegend: Wenn Künstler Werke schaffen, groß oder klein, Gemälde oder Skulpturen, gegenständlich oder abstrakt, bunt oder schwarz-weiß, jedes Mal stellen sie dabei Dinge her. Jedes noch so kunstvolle Artefakt ist eben ein Ding. Ob es aber wirklich zwingend ist, in die so volle Welt der Dinge, die uns umgibt, immer weitere Dinge hineinzupacken, das kann man mit gutem Grund bezweifeln. Der Fußgänger hingegen hinterlässt nichts – außer allenfalls Fußspuren, die rasch verschwinden. Dies etwa ist der Hintergrund, vor dem in den 1960er- und 70er-Jahren die Walking Art entstand. Sie war in gewisser Hinsicht eine Antwort, eine überaus englische Antwort, auf die US-amerikanische Land Art, die ja gerne mal mit dem Bulldozer als Stift eine Landschaft bezeichnete. Eine sehr leise und behutsame Kunst ist dagegen die Walking Art: Die unmittelbare Naturerfahrung beim Wandern, Material und Werk zugleich, wird Gegenpol zur Industriegesellschaft und ihrem Produktionswahn (und den damit einhergehenden Zerstörungen). Gehend durchquerte Hamish Fulton (*1946 in London, GB) einen beachtlichen Teil der Welt: Walking Coast to Coast. Coast to River. River to Coast. River to River. Wenn man aber eine Ausstellung machen will, wie hier in der Schirn, was zeigt man dann? Fotos und Dokumente: 35 Walks Map. Europe.1971–2019 von Fulton ist Grafik und Report in einem.
Dem Konzept der Nicht-Sichtbarkeit des Gehens fügt der gesellschafts- und umweltpolitisch reflektierte Künstler einen überraschenden Dreh an: „Unlike a drawn line a walked line can never be erased“, sagt er und meint mit dieser Unmöglichkeit des Radierens die Persistenz der Erfahrung. Fulton ist prominenteste Figur des Kapitels „Gehen!“ Innerhalb der Ausstellung, zu welcher übrigens noch, ganz am Schluss, ziemlich überraschend nach dem oben Gesagten, „Produzieren!“ zählt. Gemeint ist hier eher ein Finden, der aufmerksame Blick auf den Boden, den der gehende Mensch beschreitet und auf dem er Spuren und Objekte entdeckt, die ihm während des Gehens (oder danach) zu materiell greifbaren Kunstwerken werden können. Sie ermöglichen es dem Gehenden, „mit der Umwelt zu kommunizieren, sich selbst (neu) zu verorten und in einen Ort einzuschreiben.“ So definierten es die Kuratoren dieser intelligent gemachten Ausstellung, Fiona Hesse und Matthias Ulrich.
Um etwas zu sehen beim Gehen, muss man freilich den Schritt verlangsamen, muss man immer wieder innehalten. Genau das taten die Erfinder des Gehens als Kunstform, die Flaneure des 19. Jahrhunderts. Dieser legendär gewordene Sozialtypus dient Walter Benjamin bekanntlich später zur Erschließung der neuen urbanen Welt in seinem „Passagen-Werk“, taucht aber schon in Texten des französischen Dichters Charles Baudelaire auf, wo sein langsames und zielloses Umherschweifen die hektische, konsum- und vergnügensorientierte bürgerliche Vernutzung der Stadt in stillem Protest aushebelt. Geradezu subversiv war die „Spaziergangswissenschaft“ des Soziologen Lucius Burkhardt (ab 1976). Seine Wahrnehmungs- und Aneignungsstrategien des Gehens prägten die Stadtforschung und Stadtplanung am Ende einer autozentrierten Moderne und sind heute aktueller denn je. Vorläufer einer solchen „psychogeographischen Feldforschung“ im Gehen durch die Stadt war seit den 1950ern die Gruppe der „Situationistischen Internationale“ an der Schnittstelle von Kunst und Politik, Architektur und Gesellschaft. Die Kritik an der modernen, kommerzialisierten Stadt führte aufs Land, zur schon genannten Land Art kamen als Einflüsse Minimal Art und Konzeptkunst. Gemeinsamer Nenner dieser unterschiedlichen Ansätze war eine Neubestimmung des Verhältnisses des Menschen zum Raum und zur Natur: Dies kulminierte im Gehen und der dabei zu erschließenden physischen und mentalen Landschaft (oder urbanen Umgebung). „WALK!“ möchte diesen Diskurs in seiner Relevanz für uns Heutige befragen und dabei den engen Zusammenhang von geo-politischen, wirtschafts-politischen, globalen und ökologischen Fragen beleuchten. Das „Ästhetische“, das „Schöne“ gar im herkömmlichen Sinne eines physischen Werkbegriffs freilich hat hier seinen Platz verloren und abgegeben an die Schaffung entsprechend sensibilisierter Situationen (und Kommunikationen).
Weitere Kapitel rufen auf zum „Erzählen!“, „Beobachten!“ und „Umherschweifen!“ Letzteres ist den Emotionen und Affekten sowie den äußeren Verführungen verpflichtet, die dem Gehenden alles andere als fremd sind. Denn, so bei sich er auch sein mag, so offen ist er für die sinnliche Bandbreite der Welt umher. Zu beachten ist hier, dass neben den visuellen auch die akustischen und taktilen Sinneskanäle auf äußerste Empfangsschärfe gestellt sind: Yolande Harris (*1976 in Bournemouth, UK) etwa schafft „Klangspaziergänge“, die unsere Wahrnehmung sensibilisieren sollen. Bei „WALK!“ hat auch das dezidierte „Nicht-Gehen!“ seinen Auftritt: Miae Son (*1985 in Seoul, KR) bezieht sich in Moonwalk auf eine Tanzfigur, die im Nicht-von-der-Stelle-kommen die Gehbewegung simuliert. Zwischen der Alltagserfahrung des Gehens auf einer Rolltreppe, der Popmusik eines Michael Jackson und den Bildern der Mondlandungen oszillieren hier die Assoziationen.
Manchmal ist die Verhinderung des Gehens auch politisch bestimmt: Bani Abidi (*1971 in Karachi, PK) hat mit Security Barriers A-Z den stählernen Absperrgittern, die die Polizei in Pakistan verwendet, um bei Demonstrationen und Unruhen die Bewegung von Menschen gezielt einzuschränken, eine ironische Enzyklopädie gewidmet. Birke Gorm dagegen (*1976 Hamburg, DE) nimmt sich vor, den auf ihrem Weg zufällig gefundenen Objekten mit zeitaufwendiger Bearbeitung wieder Individualität und insofern Absicht zu verleihen.
Also: ein so ernsthaftes wie spielerisches Projekt, das auf Wege einlädt – und auf Denkwege!
Auf einen Blick
Ausstellung: „Walk!”
Ort: Schirn Kunsthalle Frankfurt, Römerberg, 60311 Frankfurt
Dauer: bis 22. Mai 2022
Internet: https://www.schirn.de/ausstellungen/2022/walk/
Öffnungszeiten:
Di, Fr–So: 10.00 bis 19.00 Uhr
Mi, Do: 10.00–22.00 Uhr