Buchtipp

Monte Verità

Der Traum vom alternativen Leben beginnt

 

Das 20. Jahrhundert ist noch kein Jahr alt, da macht sich eine Gruppe junger Aussteiger angeregt durch ein Büchlein des russisch-deutschen Philosophen Afrikan Spir („Vorschlag an die Freunde einer vernünftigen Lebensführung“) auf ins Tessin, nach Ascona an den Lago Maggiore. Damals deutete, so Stefan Bollmann, Autor des Buches „Monte Verità. 1900 – der Traum vom alternativen Leben beginnt“, noch nichts darauf hin, dass der Hügel, den sie besiedelten, „einmal zum Symbol für die Suche nach einem alternativen, zu unseren wahren Bedürfnissen passenden Leben werden und Menschen aus der ganzen Welt, darunter viele Künstler, anziehen sollte.“

Es sind gerade einmal sechs Menschen, „die in München Schwabing aufbrechen, um nach einer mehrwöchigen Odyssee einen kleinen, kahlen Berg für ihre ganz persönliche Lebensreform zu entdecken“: Die Musikerinnen Ida und Jenny Hofmann, die Brüder Karl und Gustav Gräser – der eine entlaufener Soldat, der andere Maler und Lebenskünstler –, der belgische Industriellensohn Henri Oedenkoven und die ihrem gewalttätigen Elternhaus entflohene Lotte Hattemer.

Gemeinsam gründen sie den Monte Verità, den Berg der Wahrheit, wo sie sich den Traum vom selbstgeschaffenen Paradies erfüllen, gemeinsam leben und ein alternatives Leben aufbauen wollen. Ihre Agenda: in der Natur leben, sich vegan ernähren, freier lieben, sich selbst verwirklichen. Schnell verbreitet sich der Ruf der Kommune nach Berlin, München, Genf und St. Petersburg. Heute gilt die Lebensgemeinschaft als eine der Wiegen der Alternativbewegung

Der Monte Verità wird zum Anziehungspunkt für Aussteiger und Sinnsucher: Erich Mühsam kommt, völlig blank, mit dem schönen Dichter Johannes Nohl im Schlepptau, doch er verträgt das vegetarische Essen nicht. Käthe Kruse tanzt mit ihrem unehelichen Kind an Weihnachten ums Feuer. Hermann Hesse flüchtet sich vor dem Alkohol nach Ascona und gräbt sich in die Erde ein. Marianne Werefkin malt über sechshundert Bilder. Mary Wigman folgt ihrem Lehrer Rudolf von Laban auf den Berg und bringt diesen mit ihrem Tanz an die Sonne zum Beben. Wenn Gemeinschaftsbildung auf konsequent ausgelebten Individualismus trifft, kollidieren Gesinnungen, ist das Zusammenleben in diesem gesellschaftlichen Experimentierfeld nicht immer harmonisch, finden auch Konkurrenzdenken, Eifersucht, Neid und Missgunst ihren Platz.

Stefan Bollmann erzählt von den Lebensreformern und der faszinierenden Aktualität ihrer Ideen bis heute. Umfassend recherchiert fangen seine lebendigen Beschreibungen das bunte Treiben der Lebensgemeinschaft ein, macht die Strahlkraft und die Faszination, die von ihr ausging, nachvollziehbar. Dabei lässt Bollmann auch die Einflüsse, die von außen auf die Gemeinschaft einwirkten, nicht außer Acht. Ein anschaulich geschriebenes Buch, das die Geschichte des Monte Verità kurzweilig nachzeichnet.

Der Autor
Stefan Bollmann, geboren 1958, promovierte über Thomas Mann, gründete einen eigenen Verlag und tauschte 1998 den Beruf des Hochschullehrers gegen den des Lektors in Publikumsverlagen. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, die in 16 Sprachen übersetzt wurden und sich annähernd eine halbe Million Mal verkauften.

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