Wolfgang Ruppert betrachtet die Kunst im 20. Jahrhundert als eine Kulturgeschichte des Künstlers.
Die Geschichte der Künste im 20. Jahrhundert wurde bisher meist als Stilgeschichte dargestellt. Wolfgang Ruppert entwickelt in seinem Buch eine neue Perspektive. Er deutet sie als Kulturgeschichte des Künstlers und der Künstlerin. Er fragt nach den Voraussetzungen und Bedingungen ihrer schöpferischen Kreativität. Zugleich thematisiert er die Geschichte eines Mythos, der bis heute von hoher Anziehungskraft ist. Für seine Darstellungen beschäftigt sich der Berliner Professor mit herausragenden Künstlerindividuen aus unterschiedlichen kreativen Professionen und verschiedenen epochentypischen Prägungen, wie etwa Wassily Kandinsky und Paul Klee, die „Bauhäusler“, Leni Riefenstahl, Otl Aicher, Joseph Beuys, Martin Kippenberger, Christoph Schlingensief, Jonathan Meese oder Pina Bausch. Wir haben Professor Wolfgang Ruppert zu seiner aktuellen Publikation befragt.
KUNST & material (K & m): Herr Professor Ruppert, was hat Sie veranlasst, die Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert aus der Perspektive „des Künstlers“ zu betrachten?
Wolfgang Ruppert (WR): Der Künstler/die Künstlerin sind Akteure, Kreative, die sich ihre Kompetenzen individuell erarbeiten, die ihre wechselnden Sichtweisen, Ideen, Stimmungen und Konzepte in ihren Arbeiten umsetzen, in unterschiedlichen Medien und Materialien. Ihre künstlerische Arbeit korrespondiert mit einem Teil ihres Selbstbildes. Die Arbeitsprozesse müssen aus ihrer künstlerischen Identität und Subjektivität reifen. Dies erwarten die Gesellschaft und die Kunstszene.
K&m: Sie beschränken sich in Ihren Betrachtungen auf den deutschsprachigen Raum und mehrheitlich auf männliche Kunstschaffende. Warum?
WR: Kreativität ist nicht einfach da. Sie muss vielmehr im Individuum entwickelt und hervorgebracht werden. Dazu braucht man Medien und Formensprachen, aber auch Studienmöglichkeiten an den Kunsthochschulen. Seit der „Vergeistigung“ der künstlerischen Berufe in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft um 1800 erlebt die Figur „des Künstlers“ im deutschen Kulturraum eine besondere Idealisierung. Der moderne Künstlermythos entstand und fand verschiedene Ausprägungen, Transformationen und Erklärungen auch im 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart.
Zwischen etwa 1850 und 1920 wurde Frauen im patriarchalischen Denken der Zeit auch von den Künstlerprofessoren der Kollegien der Kunstakademien die Fähigkeit abgesprochen, sich zu „großen“ Künstlerindividuen der „hohen Kunst“, dem damaligen Leitbild für Malerei, Bildhauerei und Architektur, entwickeln zu können. Dennoch ist es einzelnen Frauen gelungen, sich zu großer künstlerischer Ausdrucksfähigkeit zu qualifizieren. Daher wurde nach der grundsätzlichen Erklärung der Gleichberechtigung der Geschlechter in der demokratischen Republik von 1918 beispielsweise die Künstlerin Käthe Kollwitz zur ersten Professorin und zum +0Mitglied der Akademie der Künste Berlin ernannt, um auch diese Institution für Frauen zu öffnen. Erst seit den 1960er-Jahren verstärkte sich die Teilhabe von Künstlerinnen am Kunstmarkt und die Anstrengung zur Geschlechterparität bei den Berufungen zu Professorinnen an den Kunsthochschulen.
K&m: Im Untertitel Ihres Buches heißt es „Kreativität zwischen Mythos, Habitus und Profession“. Wie unterscheiden sich Mythos, Habitus und Profession des Künstlers bzw. inwieweit spielen sie ineinander?
WR: Damit unterscheide ich die mythische Aufladung des Künstlers/der Künstlerin von der psychisch-mentalen Fähigkeit, sich in Medien und im Material ausdrücken zu können, wie sie im Künstlerhabitus gebündelt wurde. Dieser definiert ein besonderes „unbewusstes Unterscheidungsvermögen“, um sich in entfalteter Kreativität ästhetisch in einem „Werk“ auszudrücken. Im 20. Jahrhundert wurden mit der Erfindung von technischen Medien weitere künstlerische Professionen mit je spezifischen Kompetenzen ausdifferenziert. Die Arbeit mit technischer Apparatur wie beim Fotografen, Filmregisseur oder Videokünstler fand im Verlauf des 20. Jahrhunderts zunehmend Anerkennung in der Gesellschaft, bei Künstlern wie Kunstinteressierten. Diese Zusammenhänge des Künstlerseins zu dechiffrieren und für den Leser nachvollziehbar zu machen, ist das Ziel meines Buches.
K&m: Welche Eigenschaften bündeln sich im Künstler?
WR: Caspar David Friedrich schuf sein Bild „Mönch am Meer“ 1808 mit dem ausdrücklichen Anspruch, damit „auf eigenen Füßen zu gehen“. Er gab damit dem neuen Habitus des „modernen Künstlers“ – der Eigenständigkeit in der künstlerischen Arbeit aus der Subjektivität des Individuums heraus – visuelle Kontur und Begriff, weshalb ich diesen Maler mit seiner Begründung für die neue selbstverantwortete Arbeitsweise an den Beginn meines Kapitels zum Künstlerhabitus gestellt habe. Diese Eigenständigkeit bei der erfinderischen Arbeit am Werk hatte ihre Basis im Anspruch, die individuelle Sicht auszuleben. Seither gehört es zum Künstlerhabitus, die subjektive Fantasie und Idee frei zu entfalten. Dabei wird dem Künstler/ der Künstlerin die Autonomie der künstlerischen Freiheit zuerkannt. Diese ist jedoch durch Bedingungen begrenzt, die für Künstler die Realität des Berufs strukturieren: der soziale Raum des Kunstbetriebs, die Gebundenheit an die Zeitgenossenschaft, die Praktiken der unterschiedlichen Professionen. Die Autonomie in der künstlerischen Arbeit ist nach meinem Verständnis jedoch ein notwendiger Anspruch: Sie gibt Raum für die Selbstverantwortung des kreativen Individuums im eigenen Arbeitsprozess.
K&m: Gibt es einen durchgängigen Künstlerhabitus, an dem alle Kreativen teilhaben, den sie lediglich variieren?
WR: Mein Buch belegt Gemeinsamkeiten über das 20. Jahrhundert hinweg, zwischen so unterschiedlichen Künstlern und Künstlerinnen wie Kandinsky, Klee, Beuys, Kippenberger, Schlingensief, aber auch Pina Bausch, mit ihren jeweiligen epochentypischen Varianten des Künstlerhabitus. Arbeitsergebnis meines Buches ist es, dass auch die postmodernen Künstler am Künstlerhabitus der Moderne partizipierten, sich aber als Akteure – unter Betonung des Fraktierten – in eine spielerische Distanz setzten.
K & m: Was macht das Künstlersein in Ihren Augen so attraktiv?
WR: Es ist die Faszination, sich über die künstlerische Arbeit in der eigenen Kreativität frei ausdrücken und darin Entdeckungen machen zu können. Sie beinhaltet ein erforschbares,offenes Potenzial an innovativen Möglichkeiten, überraschendenEinfällen und neuartigen Arbeitsweisen als Reaktionen auf die Erfahrungen der eigenen Zeitgenossenschaft.
K&m: Herr Professor Ruppert, vielen Dank für dieses Interview!
Der Autor
Wolfgang Ruppert lehrte zwischen 1983 und 1988 Kulturgeschichte im Studiengang Geschichtswissenschaften der Universität Bielefeld, er ist seither Professor für Kultur- und Politikgeschichte an der Universität der Künste Berlin.
Künstler!
Seiten, 2018, Böhlau Köln (Verlag), 978-3-412-50976-7 (ISBN)
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