Ausstellung

Gipfeltreffen in Duisburg

Das Lehmbruck Museum sucht Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Auguste Rodin und Wilhelm Lehmbruck

Im frühen 20. Jahrhundert pilgerten zahlreiche junge, zukunftsgerichtete Bildhauer, die Inspiration suchten, nach Paris. Viele von ihnen machten sich auf in die nahegelegene Stadt Meudon, wo Auguste Rodin sein großräumiges Atelier hatte. Ein Kultort, weil der international gefeierte französische Bildhauer (1840–1917) für viele eine Art Vaterfigur war. „Rodin wird für das 20. Jahrhundert von gleicher Bedeutung sein wie Michelangelo für das 16. Jahrhundert“, schwärmte der Bildhauer Henri Gaudier-Brzeska. Wilhelm Lehmbruck dürfte ihm beigepflichtet haben. In Düsseldorf, wo er Kunst studierte, hatte der in Duisburg geborene Bildhauer (1881–1919) im Jahr 1904 eine Sonderschau mit knapp 60 Arbeiten Rodins besucht. Für den jungen Künstler, dem der Akademismus ein Gräuel war, bedeutete das ein Erweckungserlebnis.

Die reiche Gefühlsskala und furiose Dynamik von Rodins Werken zogen Lehmbruck ebenso in den Bann wie die kühnen formalen Neuerungen, beispielsweise die programmatische Allansichtigkeit und die Hinwendung zum Torso. Versteht sich, dass der rheinische Senkrechtstarter, der 1910 nach Paris zog, Rodin umgehend seine Reverenz erwies. Ein gemeinsames Band hätte zudem die von beiden gehegte Verehrung für die Gotik knüpfen können – vier Jahre später veröffentlichte Rodin sein Buch „Les Cathédrales de France“. Doch die persönliche Begegnung des 29-Jährigen mit dem Meister sorgte für Ernüchterung – und für eine Distanzierung von der „Kunst der Buckel und Höhlungen“, wie Rodin selbst sein dynamisches Werk charakterisiert hat.

Das zwiespältige Verhältnis dieser beiden Künstler untersucht das Duisburger Lehmbruck Museum (1964 gebaut von Wilhelm Lehmbrucks Sohn Manfred) momentan in Gestalt der Ausstellung „Schönheit. Lehmbruck & Rodin – Meister der Moderne“. Der 100. Todestag Lehmbrucks, der mit 38 Jahren Selbstmord beging, liefert den biografischen Anlass für diese Schau, die rund 100 Exponate aus zahlreichen Museen vereint. Was Auguste Rodin angeht, stammen die meisten Leihgaben aus dem Musée Rodin in Paris. Rund um die Plastiken der beiden Hauptakteure gruppieren sich Werke von Alexander Archipenko, Hans Arp, Alfred Boucher, Constantin Brancusi, Camille Claudel, Max Klinger und Henri Matisse. Die Schönheit, von der Moderne bekanntlich zum rückständigen Ideal erklärt, schwebt als Leitidee über diesem Gipfeltreffen zweier Bildhauer, ohne die sich die Kunst des 20. Jahrhunderts anders entwickelt hätte. Beide wandten sich gegen den akademischen Geschmack, der das Regelmäßige und Harmonische zur Norm machte. „Die Schönheit ist nicht ein Ausgangspunkt, sondern ein Resultat“, verkündete Rodin. „Nur dort ist Schönheit, wo Wahrheit ist.“

Offenbar war Lehmbrucks Wahrheit aber eine andere als die seiner künstlerischen Vaterfigur. Das zeigt schon die erste überlebensgroße Plastik, die Stehende weibliche Figur von 1910, die den Auftakt zur Duisburger Ausstellung bildet. Ruhe und Statuarik dieser wohlproportionierten Figur verkörpern einen Gegenpol zu jenem élan vital, der einem aus Rodins Bürgern von Calais oder dem Höllentor anspringt. Den direkten Vergleich mit einem Werk Rodins erlaubt in der Ausstellung Lehmbrucks Sitzender Jüngling von 1916/17. Der berühmte Denker (1881/82) des Franzosen stand Pate bei der Bronze eines extrem gelängten Jünglings, der in Gedanken versunken ist, ja beinahe meditiert. Ganz anders Rodins Denker – er kauert in sich, als brüte er über einem Plan, den er im nächsten Moment in die Tat umsetzen wird. Wilhelm Lehmbruck selbst hat den Unterschied glasklar analysiert: „Sehen Sie, das ist meine Konzeption eines Denkers. Rodins ‚penseur‘ ist so muskulär wie ein Boxer … was wir Expressionisten suchen ist: präzis aus unserem Material den geistigen Gehalt herauszuziehen.“

Rodin war Pragmatiker, Lehmbruck Idealist – so konnte der Funke in Meudon nicht überspringen. Von Matisse und Picasso ist bekannt, dass der Atelierbesuch bei Auguste Rodin auf sie ebenfalls eine desillusionierende Wirkung ausübte. Im Katalog räsoniert Catherine Chevillot plausibel über die Gründe für diese Entfremdung: „Lehmbrucks Vorstellung von Rodins Schaffen dürfte sehr stark von dem abgewichen sein, was er bei dem Atelierbesuch in Meudon erblickte: Rodins Atelier vermittelte einen schonungslosen Einblick in den Entstehungsprozess seiner Skulpturen, der damals ganz und gar nicht mehr klassischen Vorstellungen entsprach. Er gab das Modellieren immer mehr auf und setzte seine Figuren stattdessen aus vorgefertigten Elementen früherer Figuren zusammen, von denen er dann mehrfache Gipsabgüsse fertigte. Das Fragmentarische war für ihn ausdrucksstärker als der unversehrte Körper. … Es verwundert deshalb nicht, dass sich Besucher in Rodins Atelier brüskiert und an ein Labor à la Frankenstein erinnert fühlten.“

Mit der Aufwertung des Torsos zum vollgültigen Bildwerk betrat Rodin Neuland. Zwar schätzte man vor allem seit dem Klassizismus und der Rückbesinnung auf das Altertum auch antike Figuren, die in versehrtem Zustand auf uns gekommen waren, doch blieb das Ideal stets der vollständige Körper. Rodin war der erste, der das Fragment als Ganzheit begriff, der auf Arme, Beine und Köpfe verzichtete und aus dem Mut zur Lücke ein ästhetisches Credo machte. Lehmbruck folgte ihm darin: In der Ausstellung verkörpern beispielsweise der Hagener Torso, der Torso der Großen Sinnenden, der Geneigte Frauentorso (Pygmalions Statue) oder die Schreitende (Mädchen, sich umwendend) verschiedene Ausprägungen dieses Bekenntnisses zum Non-finito.

Die Wiedergabe von Frauen und Männern hält sich im Œuvre Lehmbrucks die Waage. Bemerkenswert aber, dass er offenbar unterschiedliche geschlechtsspezifische Maßstäbe anlegte, was die Formensprache angeht. Fügen sich Skulpturen wie die Badende, Die Kniende, die Große Sinnende oder diverse Mädchen- und Frauenköpfe durchaus in den Kanon dessen, was herkömmlich für schön gehalten wird, so stehen die Männerdarstellungen geradezu in Opposition zu den klassizistischen Schönheitsidealen. Auffällig zunächst, dass Werke wie Emporsteigender Jüngling, Sitzender Jüngling oder Gestürzter mit den damals herrschenden martialischen Vorstellungen von Männlichkeit nicht in Einklang zu bringen sind. Lehmbrucks Helden sind durch die Bank empfindsame, zerbrechlich wirkende junge Männer. Sie entsprechen damit einem im frühen 20. Jahrhundert verstärkt auftretenden Muster, das das Berliner Georg Kolbe Museum im vergangenen Jahr in seiner Ausstellung „Zarte Männer in der Skulptur der Moderne“ untersucht hat (s. dazu den Beitrag des Verfassers https://www.boesner.com/kunstportal/kunst-und-kuenstler/ausstellung/fragile-helden/). Vor allem aber verstößt eine buchstäblich niedergeschlagene Skulptur wie Gestürzter dem auch in der Kunst oftmals verfochtenen Dogma, dass Männer keinen Schmerz kennen. Heftig fielen denn die Reaktionen aus, als Lehmbruck seine Version eines weltlichen Schmerzensmannes – ein nackter Jüngling, vornüber gebeugt auf den Knien liegend, mit Schwertstumpf in der rechten Hand – 1915 in Berlin präsentierte. Bornierte Kritiker entsetzten sich über ein „plastisches Unglück“, ein „Monstrum“, eine „Vergewaltigung von Natur und Menschheit“.

Wie so oft in der Kunstgeschichte entpuppte sich das, was die meisten Zeitgenossen entsetzte, auf lange Sicht als die eigentliche Stärke eines Kunstwerkes. Als 1955 in Kassel die erste documenta stattfand, erhielt Lehmbrucks Kniende in der Rotunde des Museums Fridericianum einen Ehrenplatz. Rund drei Jahrzehnte später berief sich ein anderer rheinischer Bahnbrecher auf Lehmbruck: Joseph Beuys bekannte 1986, anlässlich der Verleihung des Wilhelm-Lehmbruck-Preises in Duisburg, der Bildhauer sei sein „Lehrer“ gewesen. Schon Beuys verglich dessen Kunstwollen mit dem Rodins und urteilte: „Lehmbruck geht über Rodin hinaus, er ist Vollender einer Tradition, die bei Rodin ansetzt, indem seine Skulpturen zu Dingen des Hörens, des inneren Hörens oder des Gedankens werden: Also Sinnbilder für das Denken.“ Das beeindruckendste Zeugnis des nachhaltigen Einflusses, den Wilhelm Lehmbruck auf zeitgenössische Künstler ausübt, ist in der Duisburger Ausstellung eine Vitrinenskulptur der Belgierin Berlinde De Bruyckere. Into One-another II to P.P.P., eine Hommage an Pier Paolo Pasolini, zitiert Lehmbrucks Gestürzten, greift das Konzept des Torsos auf und findet mit der Plastik aus Wachs und Epoxidharz eine berührende Chiffre für die Ermordung des radikalen italienischen Regisseurs.

Auf einen Blick

Ausstellung

Bis 18. August 2019: „Schönheit. Lehmbruck & Rodin – Meister der Moderne“. Die begleitende Studio-Ausstellung „Wilhelm Lehmbruck. Ein Leben“ zeichnet mit Dokumenten, Fotografien und Arbeiten die Biografie und das (Früh-)Werk des berühmten Künstlers nach.

Öffnungszeiten

Dienstag bis Freitag 12–17 Uhr

Samstag und Sonntag 11–17 Uhr

Katalog

Schönheit. Lehmbruck & Rodin. Meister der Moderne. Söke Dinkla (Hrsg.), Beiträge von Anne-Marie Bonnet, Catherine Chevillot, Söke Dinkla, Jessica Keilholz-Busch, 208 S., 140 Farbabb., 24 x 28 cm, geb., Hirmer, ISBN 9783777432649

 

Kontakt

Stiftung Wilhelm Lehmbruck Museum – Zentrum Internationaler Skulptur

Düsseldorfer Straße 51, 47051 Duisburg

Internet: www.lehmbruckmuseum.de

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Profile

Wilhelm Lehmbruck, 1881 in Meiderich bei Duisburg als Kind einer Bergarbeiterfamilie geboren, gehörte im frühen 20. Jahrhundert zu den bedeutendsten Bildhauern, zu den Wegweisern der plastischen Moderne. Zu den Stationen seines kurzen Lebens gehören Düsseldorf, Paris, Zürich und Berlin. In der deutschen Hauptstadt nahm er sich am 25. März das Leben; in Berlin wurde er zunächst bestattet. 1962 erfolgte die Umbettung auf den Waldfriedhof in Duisburg-Wanheimerort. Die dortige Grabstätte des Künstlers und seiner Ehefrau Anita schmückt ein Bleiguss der Büste „Kopf eines Denkers“. Zum 100. Todestag Lehmbrucks stiftete die Familie einen neuen Steinguss dieser 1918 entstandenen Plastik, die als Selbstporträt des visionären Bildhauers interpretiert werden kann.

 

Grabstätte von Wilhelm und Anita Lehmbruck auf dem Waldfriedhof in Duisburg-Wanheimerort mit neuem Steinguss der Büste „Kopf eines Denkers“

Foto: Frank Vinken/Lehmbruck Museum

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