Die Wuppertaler Künstlerin Sylvie Hauptvogel
Stoff! Für das gattungsübergreifende Werk von Sylvie Hauptvogel ist (der gewebte, gestickte) Stoff in seinen verschiedenen Ausformulierungen das wichtigste Material, und zwar vom einzelnen Faden über das Textilstück bis hin zur Kleidung. Die Eigenschaften des Stoffes, der weich ist und warmhält, der entzieht und formbar ist, sind dabei direkt mit den Themen der Wuppertaler Künstlerin verbunden. Sylvie Hauptvogel beschäftigt sich in ihren teils absurden, teils surrealen, meist mit der Rekonstruktion der Vergangenheit befassten Milieustudien mit tagtäglichen Ritualen und vertrauten, wie selbstverständlichen Strukturen, im Besonderen im Haushalt – verbunden ist dies mit dem Spektrum von Heimat und Geborgenheit, durchaus mit Brüchen und Abgründen, vorgetragen mit einem feinen Humor. Nostalgie ist eine Grundstimmung ihrer Aktionen, ihrer Bilder mit Textilien, ihrer Objekte und Installationen: im Verweis auf die Zeit vor 40, 50 Jahren, als wir selbst Kinder waren und diese häuslichen Szenarien an der eigenen Haut erlebt haben.
Eine Referenz, die Hauptvogels Intentionen voll und ganz entspricht, ist das Fotoalbum. Als „klassischer“ Ort für die Bilder der Vergangenheit speichert es die damaligen Gestimmtheiten, schließlich trägt schon das einzelne Foto im Augenblick nach seiner Entstehung die Erinnerung in sich. Auf dieses selbst verzichtet Sylvie Hauptvogel. Es reicht das gebundene Buch mit seinem großen, schweren Format, mit der Haptik der Papieroberfläche und dem Rauschen und Knistern beim Umblättern und dem breiten Bütten-Falz zwischen den Seiten. Es teilt mit, dass hier alles von Bedeutung ist. Aber Sylvie Hauptvogel bringt Leichtigkeit in das Theatralische, etwa indem sie lediglich einzelne Fäden einstickt.
Bei ihrer Arbeit „Familienalbum“ (2011) hat sie die Blätter aus Pergamin mit roten und blauen Fäden bestickt. „In die Pergaminpapiere dieser Fotoalben sind Spinnennetze mit Fliegen und Spinnen eingeprägt“, sagt Sylvie Hauptvogel im Gespräch. „Das hat mich damals, als ich es erkannt habe, so fassungslos gemacht und ich fand es so ironisch für ein Familienalbum, dass ich damit arbeiten musste.“ Ihre Stickereien greifen diese Strukturen auf, aber sie lassen nun etwa an Seesterne, Drachen am Himmel, fallende Blätter denken. Als abbreviaturhafte, wie hingehuschte Zeichnungen handeln sie ganz mit dem ansonsten leeren Blattformat. Die Vorder- und die durchscheinende Rückseite des Pergaminpapieres sprechen in ihrer Schichtung Gegenwart und Vergangenheit an. Das gegenüberliegende leere, schwere Blatt aus Bütten wird seinerseits Anlass zur Projektionsfläche des Horror vacui. Der Buchumschlag selbst ist in blauen Stoff eingehäkelt; zwischen den Maschen bleibt der beige-braune Ton des Fotoalbums erkennbar. Vielleicht hält das weiche Volumen des Stoffes das Buch weiter auf Abstand; auch stellt sich durch die gespannten Maschen ein Moirée-Effekt ein. Beides sind formale wie auch inhaltliche Aspekte, die mit der Ambivalenz von Nähe und Distanz, vertraut und doch fremd handeln, mit Taktilität und mit dem Messen der Vergangenheit an der Gegenwart – sie tauchen in unterschiedlicher, wechselnder Erscheinung und Bedeutung wiederholt im Werk von Sylvie Hauptvogel auf.
Auch bei ihrer Arbeit „zartes Rosa“ (2014/2015) bildet ein Fotoalbum den Bezugspunkt. „zartes Rosa“ hat sie im März 2015 – in einer gemeinsamen Ausstellung mit Matthias Neumann und Dietmar Wehr – im Sparkassenforum in Wuppertal-Elberfeld wie ein Bühnenstück präsentiert. Auf einem weißen Podest standen ein Tisch und ein Stuhl, die in ihrem Design und ihrem Zustand aus den Wirtschaftswunder-Jahren stammten könnten. Die Sitzfläche des Stuhls war Rosa umhäkelt. Auf der mit einem dichten Linienmuster überzogenen Resopalplatte lag das Fotoalbum, der Umschlag war ebenfalls mit rosa Garn umhäkelt. Bei diesem Buch nun hat Sylvie Hauptvogel direkt auf das gewichtige, stofflich zu empfindende Bütten gestickt: Zu sehen sind hier geometrische Raster, die sich nun aber erst im Kopf des Betrachters zusammenschließen.
Sylvie Hauptvogel hält Erinnerungen wach, die alle Menschen von ihrer Geburt und bis zum Tod teilen. Ihr Arbeitsfeld ist die Alltags- und Sozialgeschichte, wobei sie deren Bedeutung, aber auch die wiederkehrenden ästhetischen Strukturen in ihrer Differenziertheit herausarbeitet, ja, sie aus den Nischen des Unbeachteten hervorholt. Auch wenn der Mensch selbst nie in ihrem Werk zu sehen ist – ausgenommen bei ihren Aktionen – so geht es doch sehr direkt um seine Existenz, sein Wohlbefinden und wie er sich in der Urbanität eingerichtet hat.
Sylvie Hauptvogel wurde 1970 in Göttingen geboren. Im Gespräch in ihrem Atelier am Arrensberg in Wuppertal-Elberfeld erwähnt sie, dass sie Pharmazie studiert und die Approbation als Apothekerin erworben hat. – Vielleicht haben sie sogar das Wissen um traditionsreiche Apotheken mit ihrem Kontor und den hohen Regalen aus Holz, aber auch das Anrühren von Tinkturen bei ihrer Kunst geprägt? Auch die Hausmittel mit den überlieferten Rezepturen? Eine ähnlich vorgehende Künstlerin ist Lili Fischer, die in den 1970er-Jahren Mitbegründerin der Spurensuche als Kunstrichtung war. Wie Lili Fischer zieht Sylvie Hauptvogel beiläufige Phänomene und deren Zeichen für unser alltägliches Leben hinzu, sie befragt die Lebensbedingungen mittels kleiner, hier nun eindrucksvoller bildnerischer Gesten. So wählte sie für ihren Beitrag in den Hallen des ehemaligen Herstellers der Elbaordner einen Büroraum, in dem die einstigen Angestellten eine große Bilderwand aus alten Kalenderblättern gestaltet hatten, und stellte auf einem Tisch verschiedene Wärmehauben für Kaffeekannen nebeneinander. Unter diesen befanden sich Kräutersäckchen, und die Besucher konnten raten, welche Küchen- und Heilkräuter das waren: „Hinterher hat der ganze Raum nach Kräutern gerochen, wie in einer Apotheke“, berichtet Sylvie Hauptvogel („Heimkultur“, 2008). Und in ihrer „Quallenperformance“ (2014) hat sie Quallenimitate aus dem Geliermittel Agar, die der Ohrenqualle mit ihren vier Kreisen nachempfunden sind, in Feldern auf dem Boden verteilt und zertreten. Anschließend hat sie die Reste zusammengeschoben und die Füße in einem Bottich gewaschen und mit einem Tuch aus einem Stapel Handtücher abgetrocknet. Weiter auf unsere sanitären Grundbedingungen ging eine Aktion ein, bei der sie Kernseife herstellte, begleitet von Handzetteln, die zur Substanz der Seife und ihrer Herstellung Auskunft gaben (2015). Aber Sylvie Hauptvogel hat auch Tür- und Fenstergriffe sowie Heizungsrohre mit gehäkelten Stoffstücken ummantelt und mit dieser geringen Abweichung von der Normalität erst auf sie aufmerksam gemacht. Und das warme Heizungsrohr wird warmgehalten und zugleich abstrahiert und ist als Form geradezu organisch, ja, es erinnert an Körperglieder, die aus der Wand ragen. Andere Arbeiten widmen sich der Schürze, die heute lediglich noch in bestimmten gesellschaftlichen Situationen getragen wird. Anfänglich hat Sylvie Hauptvogel die Rockschürze in monochromem Ton – dadurch in ihrer Wirkung wie ein Röntgenbild – abgedruckt. Den weißen Druck hat sie mit einem roten Faden bestickt und flach, als Bild, präsentiert. Sie hat also einzelne Partien als eigene Formereignisse fokussiert, bevor sie dieses Verfahren auf die Pergaminblätter des Fotoalbums angewendet hat.
Einen wichtigen Überblick über das Werk lieferte 2011 die Ausstellung in der Maschinenhalle der Zeche Scherlebeck in Herten. Der Ausstellungstitel lautete „homestory“: Gemeint ist damit ein journalistischer Bericht über das häusliche Leben bekannter Persönlichkeiten. Dabei oszilliert die Stimmung zwischen Banalität und Erhöhung. Als Klima kehrte dies nun in der Ausstellung Von Sylvie Hauptvogel in Herten wieder. Da waren die Personenwagen, die, auf einzelnen Betonplatten, zu einem Kreuz mit ausgesparter Mitte angeordnet sind und zunächst den etwas profanen Gedanken an einen gemeinschaftlichen Kuraufenthalt weckten – wenn nicht an den Kanten der Platten zum offenen Feld hin stände: „Wie schwer wiegt deine Seele“ (2011). Verhandelt werden hier An- und Abwesenheit des Menschen, das Hinterlassen eines Fußabdrucks. Und dass das Leben immer mehr ist als seine „Hülle“. Ein simpler mechanischer Vorgang wird verbunden mit der existenziellen Behauptung – ein Ton von Leichtigkeit, Humor und stiller Ernsthaftigkeit klingt hier an, der überhaupt das Werk von Sylvie Hauptvogel kennzeichnet.
Dies galt in Herten ähnlich auch für „warmgehalten“ (2011). Das Präteritum im Titel verweist noch auf die aktive Handlung, und zwar als Vorgang, der in der Vergangenheit liegt. An einem T-Träger unterhalb der Decke hingen vier Thermosflaschen, die in gestreiften farbigen Wollschläuchen steckten. Die Schläuche endeten, unten geschlossen, knapp über dem Boden. Vielfältige Assoziationen stellten sich ein zwischen Strandgut, das zusammengetragen ist, der Strickliesel, abstrakt konkreter Malerei und industriellen Röhrensystemen; auch an Reagenzgläser in Versuchsanordnungen konnte man erinnert sein. Erneut ist ein bewährtes, aber aus dem öffentlichen Leben mehr und mehr verschwundenes Gefäß der Ausgangspunkt. Und auch hier liegt das Motiv der Umhüllung und dabei Abstrahierung vor.
Und was ist, wenn man die abgewandte Seite der Hülle sehen könnte? Sylvie Hauptvogel hat dies mit einer kuriosen Präsentation demonstriert: Anlässlich des Festivals „Die Textile“ am Kunsthaus Alte Mühle in Schmallenberg 2015 hat sie sieben alte Halbschürzen mit Epoxidharz und Glasfasergewerbe gestärkt und gesteift und mit Schutzlack überzogen. „Hüllen“ war ausgestellt auf einer Wiese, mitten im Grünen: Wie ein Zitat auf die Geschichte der skulpturalen Figurengruppe von Laokoon über Rodin bis zu Abakanowicz und Thomas Schütte, aber doch auch als Alltagskultur aus der Vergangenheit unserer Gegenwart. Mit Abstand zueinander, dabei in ihrer Farbigkeit abgestimmt, waren die Schürzen nach einer Blickrichtung hin auf der Wiese in eine Ordnung gebracht. Deutlich wurde das große Potenzial an Verschiedenheiten bei dieser „Berufs“-Kleidung der Hausfrau. Wechselnd mit dem Sonnenstand und den Schatten der dahinter stehenden Bäume aber wurde die zunächst heitere Szene unheimlich. Die Menschen waren verschwunden und die Schürzen schienen sich zu verselbstständigen. – Die österreichische Künstlerin Petra Buchegger hat die Schürze in Bezug auf ihre soziale Funktion – unter feministischen Gesichtspunkten – untersucht. Sylvie Hauptvogel nun geht es um die Schürze selbst als funktionales Kleidungsstück, am Körper des Menschen. Dieser bleibt „ausgespart“ (um einen Titel einer Themenausstellung in der Kunsthalle Mannheim 1975 zu verwenden), ist aber noch in kleinen Details zugegen, etwa im Aufbauschen der Taschen, in dem Gekräuselten der Bänder. Und damit es darüber hinaus nicht allzu theoretisch an diesem Ort der reinen Natur wird, deutet Hauptvogel eine kommunikative Zusammengehörigkeit innerhalb der Gruppierung an.
Seit dieser Zeit arbeitet sie verstärkt mit Objektfeldern. Anlässlich des „TurmStipendiums“ in Geldern – ebenfalls 2015 – hat Sylvie Hauptvogel Objekte mit Unterwäsche geschaffen; die überaus privaten, in Form, Farbe und Musterung unterschiedlichen Textilien „kleiden“ organische, teils modulare Blöcke aus Füllwatte. Die Unterwäsche-Typen kehren in verschiedenen Konstellationen wieder, ebenso kommen die Körper wiederholt vor. Zumal in der Anordnung im runden Turmgeschoss besaß diese Gruppe etwas Spielerisches; wesenhaft lagen, purzelten die einzelnen Teile im Raum. Ein bisschen erinnerte es doch an die Modenschau eines verdrängten Kleidungsstücks. Und dann ist da immer noch der Mensch als mitgedachte Möglichkeit: schutzlos, vielleicht sogar entblößt und in seiner ganzen – psychischen – Fragilität. Hier wie überhaupt bei Sylvie Hauptvogel: Es geht um die Grundbedingungen des Lebens in unserem gesellschaftlichen, sozialen Milieu. Deutlich wird, dass wir auch hier aus einer Tradition kommen, die kollektive Erfahrungen selbst im häuslichen Bereich reflektiert. Und dass wir die kleinen Dinge nicht hoch genug schätzen können. Dazu reicht, wie kürzlich in Sylvie Hauptvogels Ausstellung mit Julia Arztmann in den Flottmann-Hallen in Herne, ein Arrangement von Emailletöpfen mit Kräutern, welche im Laufe der Ausstellung nicht sichtbar wachsen und schließlich doch unübersehbar gewachsen sind. Wie die Gewohnheiten und praktischen, hilfreichen Dinge des Alltags passiert alles beharrlich, dabei fast immer im Übersehenen, kaum Wahrgenommenen. Wie schön und wichtig, dass dies hier gezeigt wurde!
Von Mai bis Juli ist Sylvie Hauptvogel an der Ausstellung Wuppertaler Künstler im Haus der Jugend am Geschwister-Scholl-Platz in Wuppertal-Barmen beteiligt.
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