Ein Museum für Skulptur! Auch für Malerei, Zeichnung, Fotografie, aber eben doch ein Spezialmuseum, wie es nur wenige in Deutschland gibt: Das Lehmbruck Museum in Duisburg gehört mit der Kunsthalle Bremen und der Kunsthalle Mannheim zu den herausragenden Skulpturen-Museen hierzulande, die mit ihrer Sammlung schon in der Moderne des späten 19. Jahrhunderts einsetzen. Früher trug das Duisburger Museum den offiziellen Zusatz: „Europäisches Zentrum moderner Skulptur“, daraus wurde mittlerweile, griffiger: „Zentrum Internationaler Skulptur“.
Ein bisschen denkt man vielleicht an das berühmte Louisiana Museum in der Landschaft nahe bei Kopenhagen, wenn man vom Duisburger Hauptbahnhof die paar Schritte durch den Immanuel-Kant-Park läuft. Dieser ist derzeit zwar für Gärtner- und Instandsetzungsarbeiten geschlossen. Aber linker Hand sieht man die Folge abstrakter Figuren von Magdalena Abakanowicz und läuft den Weg an den Skulpturen etwa von Toni Stadler und Meret Oppenheim vorbei zum Museum, das wie ein gestrandetes Ufo inmitten der Natur liegt und sich auf der Rückseite ebenerdig mit seinem Skulpturenhof mit weiteren bedeutenden Skulpturen des 20. Jahrhunderts zum Park öffnet und so auch zum Freilichtmuseum wird. Dass sich am anderen Ende des Parks zudem das wunderbare private Museum DKM befindet, sei hier nur erwähnt.
Aber ist es nicht umso überraschender, dass etwa im vorderen Bereich der Glashalle des Lehmbruck Museums und zu besonderen Zeiten an die Glasfassade projiziert, bis Anfang September ein Film gezeigt wurde? Zudem waren in der Halle auf einer U-Form aus Bürotischen mit Stühlen Laptops aneinandergereiht: Der Betrachter wurde hier zum Akteur, der die Computer bedient. Alles in allem ist dies etwas anderes, als der Begriff Skulptur üblicherweise erwarten lässt.
Die Ausstellung stammte von dem chinesischen Konzeptkünstler Xu Bing, der hier seinen ersten, jüngst fertiggestellten Spielfilm zeigte, sich dabei aber mitnichten als Filmemacher versteht und, bekannt geworden mit kalligrafischen Werken und Buchobjekten, für seine künstlerische Praxis grundsätzlich kein Medium ausschließt. „Dragonfly Eyes“ – so der Titel – mutet beim schnellen Hinschauen wie ein Spielfilm mit einer linearen Handlung an. Aber er besteht vollständig aus gespeicherten Aufnahmen von Überwachungskameras in China, die hierfür ausgewählt und aneinandergefügt sind, wobei die Bildqualitäten, die Tempi und die Dramatik und die Deutlichkeit der Geschehnisse wechseln. Diesem thematischen Kontext entstammte auch die zweite – interaktive – Arbeit: Der Ausstellungsbesucher greift an den Laptops auf Bewegtbilder zu, die in Echtzeit von Überwachungskameras ebenfalls in China aufgenommen werden. Natürlich geht es bei beiden Beiträgen Xu Bings um Fragen von Privatheit, Datenschutz, öffentlichem Interesse, Staatsmacht und schließlich um die Manifestation von Existenz. Was zu sehen ist, ist die vermittelte Leiblichkeit des Menschen in Momenten zwischen Intimität und Auftritt auf öffentlichem Terrain und sein Verhältnis zum umgebenden, nur in Ausschnitten erfassten Raum – als Aspekte auch des Mediums Skulptur.
Xu Bings Ausstellung war Teil der seit einigen Jahren in dem von außen einsehbaren Bereich der Glashalle stattfindenden Reihe „21st Sculpture“ des Lehmbruck Museums. Mit der zeitgenössischen Neudefinition der Vorstellung von Skulptur geht es eben um spezifische Fragen: Wie sieht Skulptur in Zeiten des Digitalen mit einem neuen Bewusstsein für den Körper aus? Für derartige Überlegungen, die noch ansprechen, wie wir uns bewegen, mit Flugzeugen rasant den Ort wechseln oder als Avatar agieren, ist wahrscheinlich dieses Museum „klassischer“ Skulptur der richtige Ort.
Seit ihrem Beginn als Direktorin des Lehmbruck Museums 2013 praktiziert Söke Dinkla ein derartiges Verständnis von Skulptur und behält dabei doch die – in der Tat jahrtausendealte – Tradition dieses Mediums im Blick, das vom Menschen in seiner Leiblichkeit ausgeht. Waren diese Überlegungen schon bei ihren Vorgängern Thema von Ausstellungen, so hat Söke Dinkla deren Frequenz verstärkt, etwa mit der Retrospektive der US-amerikanischen Medienpionierin Lynn Hershman Leeson 2016, aber auch danach mit Ausstellungen mit Jana Sterbak, Franz West und Rebecca Horn, die gerade nach der Körperlichkeit des Menschen und seinen „Hüllen“ fragen: seiner Gegenwart in der Aussparung oder gar Abwesenheit. Die Ausstellung mit Rebecca Horn wurde Ende letzten Jahres eröffnet, aus Anlass der Verleihung des Wilhelm-Lehmbruck-Preises an sie. Alle fünf Jahre verliehen – und zuletzt ausgesetzt, also erstmals wieder nach einem Jahrzehnt vergeben – ist er für bedeutende internationale Bildhauer gedacht, die eben ihr Metier an der Aktualität und dem Nicht-Konformen reiben: Auch über diesen Preis, den u.a. Joseph Beuys, Richard Long und Reiner Ruthenbeck erhalten haben, definiert sich das Museum…
Eine weitere Identifikation findet über den Museumsbau selbst statt. Ebenso wie sich der Kant-Park mit seinen Skulpturen nach verschiedenen Richtungen hin ausbreitet, so lässt das Museum unterschiedliche Möglichkeiten der Begehung zwischen der Sammlung und den Wechselausstellungen zu. Sein eigentliches Herzstück ist der Flügel, der in Ausschließlichkeit Wilhelm Lehmbrucks expressionistische Skulpturen und Bilder beherbergt. Wilhelm Lehmbruck (1881–1919), der Namensgeber dieses Museums ebenso wie des Kunstpreises, ist einer der wichtigsten deutschen Bildhauer um 1900 mit Bedeutung bis heute. Er stammt aus Duisburg-Meiderich, und das Duisburger Heimatmuseum – als Vorgänger-Institut des heutigen Museums – erhielt bereits 1912 als Stiftung eine Marmor-Version der bedeutenden Skulptur „Große Stehende“, freilich als einziges Werk Lehmbrucks zu Lebzeiten. Immerhin formulierte schon damals August Hoff, der Direktor des 1924 gegründeten Duisburger Kunstmuseums, als Ziel, das Werk Lehmbrucks zu sammeln und zu pflegen. Mit Hilfe der Familie und städtischer und staatlicher Unterstützung ist der Wunsch in Erfüllung gegangen. Nach zahlreichen Erwerbungen und Schenkungen über die Jahrzehnte konnten 2009 – als sozusagen letzte Großtat von Christoph Brockhaus, der das Museum 1985–2010 geleitet hat – aus dem künstlerischem Nachlass über 1.100 Werke Lehmbrucks angekauft werden, darunter 33 Skulpturen und 18 Gemälde. In Duisburg kann man nun also – in Stein, Gips oder Bronze – so bahnbrechende Skulpturen wie die „Kniende“ (1911), den „Emporsteigenden Jüngling“ (1913) und den „Gestürzten“ (1915–16) sehen. Kennzeichnend ist die Dehnung der Figur, wodurch sich Körperlichkeit und Vergeistigung verbinden. Bereits das Werk von Lehmbruck wäre ein Grund, dieses Museum zu besuchen.
Konzipiert wurde das Museum von seinem Sohn Manfred Lehmbruck (1913–1992). Die große Glashalle und der Lehmbruck-Flügel, der in Stahlbeton und Glas nach unten in das Erdreich gebaut ist, konnten 1964 eingeweiht werden. 1987 wurde das Museum um drei Bereiche erweitert, darunter eine eigene Wechselausstellungshalle. Verschieden ausgestaltete Passagen verbinden auf drei Ebenen diese zentralen Bereiche. Der architektonische Entwurf war komplex und kompliziert und musste mehrfach überarbeitet werden, gerade weil der Plan von Manfred Lehmbruck für die damalige Zeit avantgardistisch war und ja noch immer ungewöhnlich ist. Die Baugeschichte ist im Buch „Eine grosse Idee“ umfassend dokumentiert, das 2014 zum 50-jährigen Jubiläum des Lehmbruck Museums von diesem herausgegeben wurde. Darin wird auch geschildert, wie sich die Sammlung ausgehend von Wilhelm Lehmbruck allmählich auf Skulptur spezialisiert hat. 1959 hatte eine Spende des Bundesverbandes der Deutschen Industrie den Erwerb wichtiger Skulpturen ermöglicht und die weitere Ausrichtung eingeleitet. Die Präsentation einer Skulpturensammlung ist im Gegensatz zur Hängung von Bildern an der Wand besonders spannend. Skulpturen wollen umquert werden, stehen also im Raum, gar im Weg, müssen trotzdem auf Abstand gehalten und vor Berührung geschützt werden. Und dann nehmen die Skulpturen ja untereinander visuell den Kontakt auf. Im Lehmbruck Museum ist produktiv, dass einzelne Bereiche auf verschiedener Höhe sind und miteinander korrespondieren, aber auch intime Raumsegmente gegeben sind. Der Nachteil ist, dass die Sammlung verteilt und bisweilen „verschachtelt“ auftritt. Alberto Giacometti ist hier exzellent vertreten. Zentrale Werke etwa von Henri Laurens, Max Ernst und Brancusi befinden sich ebenso in der Sammlung wie, bei den Gemälden, Max Beckmanns „Rugbyspieler“ (1929) sowie der Expressionismus von Pechstein, Kirchner oder Müller. Was die jüngere Kunst betrifft, so besitzt das Lehmbruck Museum kapitale Werke etwa von Beuys, Mario Merz, Duane Hanson, Tinguely und Boltanski. Diese Liste ließe sich fortsetzen bis in die ganz aktuelle Kunst.
Die Räumlichkeiten ermöglichen mehrere Wechselausstellungen gleichzeitig. So ist als aktuelle Hauptausstellung „Reichtum: Schwarz ist Gold“ zu sehen. Als Beitrag innerhalb der Reihe „Kunst & Kohle“ der RuhrKunstMuseen beinhaltet diese Schau Werke der 1960er-Jahre, die einen erweiterten Plastikbegriff praktizieren. Aber sie zeigt auch, dass die elementaren Parameter von Skulptur in der jungen Generation gefragt sind, etwa bei der labilen, noch in Bauschutt gehüllten verzogenen Konstruktion von Peter Buggenhout, die wie ein archäologisches Relikt in eine Vitrine gesetzt ist. Oder indem Frauke Dannert mit ihren verschobenen s/w-Rastern dem Betrachter suggeriert, dass der Raum als Schacht aus dem Lot geraten ist. Alles in allem zeigt das Lehmbruck Museum hier eine eindrucksvolle Themenausstellung, die die Ästhetik der Kohle, globale Abläufe der Energiegewinnung und das Verhältnis zwischen Ausbeutung und Gewinn des Bergbaus anspricht. Und es ist eine Ausstellung über das weite Spektrum von Skulptur seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Also, Skulptur ist formal und inhaltlich ein weites Thema, das fundamental mit dem Menschen und seiner Existenz in der Gesellschaft und im Leben zu tun hat. Davon berichtet das Lehmbruck-Museum auf vorzügliche Weise mit seiner Sammlung und seinen Ausstellungen.
Lehmbruck Museum
Friedrich-Wilhelm-Straße 40
47051 Duisburg
Tel. +49-(0)203-283-3294
www.lehmbruckmuseum.de
Ausstellungen
Bis 7. Oktober 2018: Reichtum: Schwarz ist Gold
23. September 2018 bis 5. Mai 2019: Jochen Gerz. The Wald – Keine Retrospektive
10. November 2018 bis 17. Februar 2019: Oskar Schlemmer: 100 Jahre Bauhaus
Öffnungszeiten
Dienstag bis Freitag 12.00 bis 17.00 Uhr
Samstag und Sonntag 11.00 bis 17 Uhr
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