Im Vorfeld der Bewerbung zur Europäischen Kulturhauptstadt 2010 haben sich die Kunstmuseen der Ruhrregion vor zehn Jahren zum Netzwerk der RuhrKunstMuseen zusammengeschlossen. Für das Jahr 2018, das Jahr, in dem die Steinkohleförderung in Deutschland eingestellt wird, und anlässlich ihres zehnjährigen Jubiläums haben die RuhrKunstMuseen ein ganz besonderes Ausstellungsprojekt auf die Beine gestellt: 17 Museen – 13 Städte – rund 150 unterschiedliche Positionen reflektieren aus künstlerischer Perspektive das Thema „Kohle“. Auf vielfältige Weise wird die Bedeutung des Bergbaus, seine prägende Wirkung auf Landschaft und Bewohner des Ruhrgebiets, in den Blick genommen.
Skulpturen, Malerei, Zeichnung, Foto, Video- und Klangkunst, ortsspezifische Installationen in siebzehn ganz individuellen Ausstellungen bieten ein facettenreiches Bild, mit dem politische und soziale Implikationen dieses gewaltigen Strukturwandels im industriellen Ballungsraum Ruhr, aber auch Ästhetik und Faszination des Rohstoffs Kohle zur Diskussion gestellt werden. Musik, Theater, Filme, Performances, Lesungen, Vorträge und Diskussionsveranstaltungen erweitern das Projekt in einem vielfältigen Rahmenprogramm. Es ist das größte städteübergreifende Ausstellungsprojekt, das je zum Thema Kohle und Bergbau umgesetzt worden ist, gefördert durch zahlreiche Stiftungen und durch das Land Nordrhein-Westfalen. Der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier trägt die Schirmherrschaft.
Das Kunstmuseum Bochum hatte sich frühzeitig entschieden, den in Essen lebenden Künstler Andreas Golinski zu beauftragen, sich mit der Welt unter Tage, mit dem Unheimlichen und Unbekannten des Erdinnern, künstlerisch auseinanderzusetzen. Für die Realisierung der Ausstellung wurden dem Künstler beide Hauptetagen des Museum reserviert, im Reigen der anderen „Kunst & Kohle“-Projekte ist „In den Tiefen der Erinnerung“ die größte Einzelausstellung. Im Laufe der Projektentwicklung hat sich in der Diskussion mit den Kuratoren, zum Teil auch bedingt durch Schwierigkeiten bei der Umsetzung oder Materialbeschaffung, eine zweiteilige, auf Ort und Architektur des Museum zugeschnittene Rauminstallation herauskristallisiert. Anfänglich verfolgte soziale und historische Dokumentationen, in denen Alltagserfahrungen von Bergleuten verarbeitet werden sollten, archivierte Interviews, ein Kataster von Bergschäden an Gebäuden etc. wurden von Andreas Golinski mehr und mehr abstrahiert und in einen assoziationsreichen, durchaus erzählerischen Gang verwandelt, der den Betrachter die Begegnung mit der „Unterwelt“ als Metapher auf sehr sinnliche Weise erfahren lässt. „In der Golinski kennzeichnenden ästhetischen Paradoxie der narrativen Abstraktion, die zugleich historisch, faktisch und psychologisierend argumentiert, transformiert er Aspekte seiner Recherchen über aufgegebene wie auch neue, funktionierende unterirdische Industrieanlagen, über technische Zukunftsvisionen und unkalkulierbare Risiken, über Bergschäden an Häusern und Einbrüche ganzer Straßen zu einer multimedialen Rauminstallation“, bringt Museumsleiter Hans Günter Golinski die letztlich gefundene Konzeption seines Namensvetters auf den Punkt. „Aus den Tiefen der Erinnerung“ ist sinnlich konkret und gleichzeitig minimalistisch abstrakt – als Gesamtinstallation als eine Position abstrakter Gegenwartsskulptur erfahrbar.
Das Erdgeschoss des Kunstmuseums mit seiner Raumhöhe von drei Metern hat der Künstler in ein spärlich beleuchtetes Labyrinth verwandelt, das dem Besucher den sonst üblichen großzügigen Raumeindruck und den Blick auf Natur und Garten verweigert. In der kleinteiligen Enge der Ausstellungsräume trifft man auf architektonische Visionen und Unterweltsszenerien, die Andreas Golinski in Werken geistesverwandter Künstlerkollegen aus Geschichte und Gegenwart aufgespürt hat und deren Kunst er eigene künstlerische Setzungen gegenüberstellt. Die Auswahl und Präsentation dieser Referenz-Werke erfolgte dabei ganz subjektiv und assoziativ, die üblichen Sichtweisen und Lesarten der ausgestellten Bilder und Objekte gewissermaßen gegen den Strich bürstend.
Zuerst stößt man auf die visionären Architekturen und dystopischen Stadtlandschaften des russischen Architekten Alexander Brodsky, der in der Endphase des Sowjetstaates mit fiktiven, nicht zu realisierenden Architekturentwürfen bekannt wurde. Seinen düsteren Stadtszenerien scheinbar entsprungen hat Golinski aufgerollte oder entfaltete Kunststoffobjekte in den Raum gelegt – verstörend, unerklärbar und geheimnisvoll. Im nächsten Raum stößt der Betrachter auf architektonische Visionen unterirdischer Städte, die der 2012 verstorbene österreichische Bildhauer und Architekt Walter Pichler schon 1963 anfertigte. Pichler schuf Objekte, Skulpturen und Installationen und beschäftigte sich anfangs mit architektonischen Entwürfen für utopische Stadtmodelle und mit plastischen Projekten, die sich mit Raum und dessen individueller Wahrnehmung auseinandersetzen. Seine „Lehmkopf“ betitelte Skulptur lässt hinter einem angedeuteten Eingang eine nicht messbare Unterwelt imaginieren. Fast lakonisch legt Golinski eine geschlossene Stahltür auf den Boden des Pichler-Raumes, auch hier ein darunter Liegendes, etwas geheimnisvoll Verschlossenes, nur andeutend. Der nächste Raum überrascht durch seine Leere, als sollte hier die Erfahrung von Raum selbst zum Thema werden. Einer in der spärlichen Beleuchtung in der Ecke des Raums kaum erkennbaren Lithographie des französischen Malers Pierre Soulages aus den 1950er-Jahren ist eine kleinformatige Ölskizze des Künstlers gegenübergestellt – absichtlich tief gehängt, in ihrer feinen Oberflächenstruktur kaum lesbar. Erst beim Weitergehen stößt der Betrachter auf der Rückseite der mitten in den Raum gestellten Wand auf ein großes Ölbild von Soulages, das in dieser Zusammenstellung plötzlich wie eine Öffnung, wie ein Blick in einen Stollen, erscheinen mag. Zeichnungen von Kasimir Malewitsch aus dem Bestand des Museums, in der vorrevolutionären Zeit der Jahre 1915 bis 1917 entstanden, liegen in der nächsten Ausstellungsstation wie Pläne auf einer niedrigen Tischplatte. Diese frühen suprematistischen Skizzen interpretiert Andreas Golinski als Pläne oder Stadtansichten aus der Vogelperspektive – und kommt dabei den Ideen und räumlichen Konzepten der russischen Avantgardisten recht nahe. Zwei Werke des früh verstorbenen Italieners Francesco Lo Savio,1959 entstanden, entlassen den Besucher aus der labyrinthischen Enge. Ihre monochrome Oberfläche suggeriert dem Auge des Betrachters bei konzentriertem Schauen eine räumliche Tiefe, die sich auszudehnen und pulsierend zu atmen scheint. Auch hier eine sehr subjektive Verwandtschaft, die Golinski mit eigenen schwarzen Ölskizzen markiert.
Anschließend öffnet sich der Raum, in dessen Mitte ein abweisend karger Stahlkubus gestellt ist. Auf den umlaufenden Wänden Radierungen aus der Folge der „Carceri“ (Kerker) von Giovanni Battista Piranesi. Diese 1761 in einer überarbeiteten Version veröffentlichten Blätter der „Carceri“ stellen verschiedene Innenansichten von ganz ungewöhnlichen Gefängnissen dar, denn trotz der erkennbaren Folterinstrumente, Gitter und Ketten entziehen sich die dargestellten Räume in vielerlei Hinsicht jeder gewohnten Seherfahrung. Charakteristisch ist vor allem die unlogische Kombination architektonischer Elemente: Mauern, Rampen, Treppen, Spiralen, Türme, Bögen, Gewölbe und Pfeiler sind auf eigentümliche Weise übereinandergestellt und ineinander verschachtelt, womit permanent physikalischen Gesetzen widersprochen wird. Piranesi verzerrt Proportionen und hebt durch die Verschiebung der Fluchtpunkte räumliche Grenzen auf. Diese Entwürfe sind auf dem Papier gebaute düstere Anti-Utopien, die keinerlei Möglichkeit zur Realisierung haben. Auf der abschließenden Wand antwortet Andreas Golinski auf die dunklen Kerkervisionen Piranesis mit eigenen Kerkerbildern: In tunnelartigen Gängen sind serielle Stahlkuben aufeinandergestellt und hintereinander gereiht, Details lassen die spartanisch eingerichteten Zelleninterieurs sichtbar werden. Eine verstörende Erfahrung, die Golinski in eine Bergbau-Unterwelt gestellt hat und die der Ausstellungsbesucher sinnlich und konkret nachvollziehen kann, wenn er sich traut, den verschließbaren Metallkubus, der den Raum beherrscht, zu betreten. Durch einen spärlich beleuchteten Gang wird er dann ins Museumsfoyer zurückgeleitet und gelangt über die Museumsrampe in den zweiten Ausstellungsteil im ersten Obergeschoss.
Auch hier herrscht zuerst Enge, Dunkelheit und eine gewisse Beklemmung. Die Videoprojektion eines Risses, der sich endlos auszudehnen scheint, eine Reihe schwarzer Blätter und eine auseinandergerissene und wie wahllos über den Boden verteilte Holzbalken-Installation vermitteln den Eindruck von etwas Zerborstenem, von etwas aus den Fugen Geratenem. Im anschließenden Hauptraum des Museums, dessen fast sieben Meter hohen Wände schwarz gestrichen sind, stößt der Besucher auf eine gewaltige Stahlkonstruktion: Ein aus quadratischen Edelstahlmodulen, die auf das Deckenraster des Museums verweisen, zusammengesetzter Stahlkörper versperrt den Weg und den Blick. Andreas Golinski kommentiert seine Installation so: „Die zentrale Arbeit ist dann im ersten Obergeschoss, in der großen zweigeteilten Halle, die ca. 50 Meter lang, ca. 9 Meter breit und 7 Meter hoch ist. Dort wird mit dem Entree und dem Zugang, die ich eben beschrieben habe, gebrochen. Wenn die Besucher in diese riesige Halle hineinkommen, eröffnet sich ihnen ja normalerweise dieser weite Blick. Da hinein, in diesen Raum, bauen wir einen Raum, der ist 30 Meter lang, 6 Meter breit und 3,5 Meter hoch. D.h., dass sich an den Seiten nur noch Durchgänge von je 1,5 Meter Breite ergeben. Wenn die Besucher also jetzt hereinkommen, sehen sie zuerst einmal nur diesen Monolith, und sie müssen darum herum gehen. Der steht da und stört, so, wie Kasper König das letztens einmal formuliert hat: ‚Skulptur ist, was im Weg steht.‘ Viele Besucher werden erst einmal gar nicht verstehen, dass das schon die Arbeit ist, dass das schon Skulptur, Installation ist. Dieser erste Raum im Obergeschoß, der vordere Teil der großen Halle, wird bis unter die Decke schwarz gestrichen. Das elektrische Licht bleibt aus. Es kommt nur von oben Licht herein, durch die Oberlichter, und aus dem Inneren der Arbeit kommt noch etwas Licht. Man hat also eine ganz andere Atmosphäre, als man gewohnt ist und erwartet hat.“
Man muss den monumentalen Einbau, der nur auf beiden Seiten einen schmalen Gang freilässt, umrunden, um am anderen Ende einen Zugang ins Innere zu finden. Dort öffnet sich der Blick auf ein abgesperrtes Feld zerbrochener Steinplatten, aus denen einige Metallstangen hervorschauen. Der Eindruck eines Grabungsfeldes, einer archäologischen Ausgrabung, stellt sich ein. Am Anfang seiner Überlegungen hatte Andreas Golinski die Frage formuliert, was ein künftiger Archäologe wohl finden würde, der in ferner Zukunft im Ruhrgebiet graben würde. Doch die Verwendung von realen Maschinenteilen oder von Bögen aus Toussaint-Heintzmann-Profilen der Firma Heintzmann, des großen und traditionsreichen Bergbauzulieferers in Bochum, hat der Künstler im Laufe der Ausstellungsrealisierung wieder verworfen. Die Metallrelikte sind Fragmente der Edelstahl-Module, aus denen die gesamte Installation zusammengesetzt ist, sie verweisen auf sich selbst zurück, sind Teil der Gesamtskulptur – und lassen doch vielfältige Assoziationen zu. Aus der gedämpften Atmosphäre des „Grabungsfeldes“ tritt man dann in den letzten Raum des Oberlichtsaales, der durch strahlende Helligkeit charakterisiert ist. Auf Edelstahlsockeln präsentiert Golinski hier die Metallfragmente wie in einem Museumsraum. Und wirklich geht die Präsentation auf das Erlebnis des Akropolis-Museums in Athen zurück. Die vermeintlichen Stahlrelikte sind vielfältig bearbeitet, zerbogen, zerborsten, aufgetrennt, verformt – wie autarke moderne Skulpturen werden sie nun auf individuell gefertigten Stahlsockeln präsentiert. Die Kunstkritikerin Juliane Duft beschreibt sie im Katalog zur Ausstellung: „Sie spielen mit den unterschiedlichsten historischen Vorstellungen von Skulptur – von Constantin Brancusi und Marcel Duchamp bis zu Carl Andre und den Skulpturen aus ‚wertlosen‘ Materialien von Jannis Kounellis oder auch Isa Genzken: Handelt es sich bei ihnen doch um Fundstücke? Sind sie als Readymades oder als Artefakte zu lesen? Was hat Golinski an ihnen verändert, wie fand er sie vor? Liegt ihr Wert im Material, in der künstlerischen Form oder dem geschichtlichen Kontext, in einem möglichen Artefakt-Charakter? Die Skulpturen werfen so auch im Museumsraum selbstreflexiv Fragen nach dem Sammeln und Ausstellen in Museen und dem Kontext hinter den Museumsmauern auf.“
Andreas Golinski bietet dem Ausstellungsbesucher ein komplexes ästhetisches Raumerlebnis, er führt ihn durch unterschiedliche „Unterwelten“ bis ins helle Licht eines fiktiven zukünftigen Museumsraums. Er transzendiert Raum und Zeit und provoziert ein Assoziationsfeld von kollektiver Geschichte, subjektiver Erinnerung und gesellschaftlicher Wirklichkeit. Realität und Idealität, Banalität und Spiritualität treffen auf engstem Raum aufeinander. Der Aufenthalt „unter Tage“ transformiert sich im Kunstmuseum zur Erfahrungsmöglichkeit von Existenz.
Auf einen Blick
Ausstellung: Andreas Golinksi. In den Tiefen der Erinnerung
Zeitraum: bis zum 16. September 2018
Ort/Adresse:
Kunstmuseum Bochum
Kortumstraße 147
44777 Bochum
Öffnungszeiten:
Täglich außer montags: 10:00 bis 17:00 Uhr
Mittwochs 10:00 bis 20:00 Uhr
E-Mail: museum@bochum.de
Internet: www.kunstmuseumbochum.de
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