Wenn das Atelier einer Künstlerin oder eines Künstlers als Indikator des künstlerischen Werkes gälte, dann ließe sich Vera Lossaus Arbeit als überbordend, vielschichtig und verwinkelt charakterisieren. Eine solche Analogie mag wissenschaftlich mehr als fragwürdig und rhetorisch gewagt sein – jedoch ist sie in diesem besonderen Fall hilfreich. Hilfreich, weil sie eine erste Annäherung ermöglicht, eine Annäherung an das Werk und an die Person. Treten wir also in diesem Raum hinein.
Das Atelier von Vera Lossau befindet sich in einem großen Klinkergebäude am Anfang eines Hafenbeckens in Neuss. Die Künstlerin wohnt mit ihrer kleinen Familie auf der anderen Rheinseite, im Süden von Düsseldorf. Dort hat sie studiert und dort ist sie in der Kunstszene bestens vernetzt. Obgleich sie oft an internationalen Ausstellungsprojekten teilnimmt und die Kunstvereine der Bundesrepublik mit ihrem Werk bespielt, bleibt die Landeshauptstadt ihr Ankerpunkt. Wer Vera Lossau in diesem Umfeld kennengelernt hat, hat sofort gemerkt, dass die Künstlerin die Auseinandersetzung mit der Außenwelt regelrecht braucht: Ihre Inspiration speist sich aus der mittelbaren Beschäftigung mit Gesehenem, Gelesenem oder Gehörtem.
In der Neusser Werkstatt kristallisiert sich dann ihr Werk, dieser konzeptuelle Mahlstrom aus plötzlichen Einfällen, lang überlegten Kompositionen, unerwarteten Motivkombinationen oder Materialexperimenten. Hier bekommt alles eine Form, eine Substanz und eine Bedeutung. Hier reift und gedeiht, was bisher im Zustand des Diffusen und Unformulierten gärte. Gewiss bleibt dieser Prozess der Verdichtung für die meisten Ateliergäste unsichtbar. Auf den ersten Blick ist hier keine eindeutige Ordnung zu erkennen. Die Dinge, denen man in diesem gut gefüllten Arbeitsraum begegnet – fertige und unfertige Kunstwerke, Rohstoffe in allen Zuständen der Verarbeitung sowie diverse zwei- oder dreidimensionale Sammelstücke und Hinterlassenschaften aus Reisen, Lektüren, Gesprächen und ereignisreichen Begegnungen – verweben sich untereinander zu einem nicht erschließbaren Komplex. Aber es gibt eine Ordnung; es gibt ein Band zwischen all dem, was man hier antrifft. Man muss nur lange genug verweilen, immer wiederkommen. Und mit Vera Lossau sprechen.
Lossaus Werke sind zugleich Tour de force und Paradoxon: Die Künstlerin findet klare Motive, um offene, mehrdeutige Phänomene – also solche, die eher von Unklarheit gekennzeichnet sind – zu kommentieren. Sie übersetzt den Zustand einer beziehungsreichen Komplexität in starke, ja fast ikonenhafte Sinnbilder, die sich trotz ihrer inhärenten Verzwicktheit als zugänglich erweisen. In ihrer unvermittelten Eingängigkeit sind diese Sinnbilder – zwei Basketbälle im Gleichgewicht auf einem Korb, eine Sanduhr ohne Sand, eine Bahnhofsuhr mit losen und herabgefallenen Zeigern – für jeden gut zu erfassen. Aber beim genauen Hinschauen rufen die Objekte und Kompositionen von Vera Lossau eine irritierende Unsicherheit hervor. Man kennt zwar diese Gegenstände und ihre alltägliche Bedeutung, aber durch eine minimale Umstellung geraten sie in den Bereich des Unheimlichen. Es wundert nicht, dass Lossau oft und gerne mit dem Mittel der Collage arbeitet, einer auf Verschiebung und Dekontextualisierung beruhenden Kompositionsmethode.
Lossaus Bildwelt ließe sich als Übungsplatz für komplexes Wahrnehmen und Denken umschreiben. Die Buchstaben in „The Ruins of my Dreams“ bilden die Bestandteile eines sinnvollen Textes, der für die Künstlerin von großer Bedeutung ist. Allerdings ist der Text so zerlegt worden, dass er für Nichteingeweihte unlesbar wird. Jeder einzelne Buchstabe des Schriftstücks wurde isoliert und, nach einer abstrusen, aber systematischen Methode, fein säuberlich in Behältern fixiert. In indirekter Anlehnung an die Tradition der Kabbala offenbart uns „The Ruins of my Dreams“ die beinah unerschöpfliche Potenz der Möglichkeiten, Milliarden von Sätzen auf Vorrat. Der entscheidende Text ist zwar physisch greifbar, aber nicht mehr nachvollziehbar, verstellt, aber nicht verborgen, vorhanden und zugleich verloren. Ich kenne kein besseres Sinnbild für das menschliche Verhältnis zur Wahrheit.
Ich sitze in Vera Lossaus Atelier vor dieser kleinen, unprätentiösen und doch so bedeutungsschwangeren Installation und werde von einem leichten Schwindel ergriffen. Neben mir steht die Künstlerin und betrachtet mich mit einem schelmischen Blick. Wenn das Wesen einer Künstlerin als Indikator für das Wesen ihres Werkes gälte, dann ließe sich Vera Lossaus Arbeit als verspielt und verschmitzt charakterisieren. Als humorvoll und hintergründig, zugleich zugänglich und geheimnisvoll. Ich weiß, die Analogie überschreitet wissenschaftlich und rhetorisch einige Grenzen – und doch passt das irgendwie. Ich brauche nur Veras Blick zu erwidern, um intuitiv zu verstehen, dass es hier nichts zu verstehen gibt. Die Künstlerin zwingt den Betrachter, einen dauerhaften Zustand des Rätselhaften und des Nicht-Lösbaren auszuhalten. Und scheint sich sehr darüber zu amüsieren, was für eine intellektuelle Irritation sie hervorruft.
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