Das Atelier von Sabine Fassl liegt in Pankow, am Rande von Berlin. Viel grüne Natur in der Umgebung. Eine ehemalige Lederfabrik, in die schon vor Jahren etliche Ateliers Einzug gehalten haben. Sabine Fassl arbeitet im Vorderhaus mit Blick zur Straße hin. Nur wenige Stufen hoch und dann am Ende vom linken Flur, in zwei direkt miteinander verbundenen Räumen. Sofort sind wir mitten im Gespräch: Es gibt genug zu sehen, zumal die mitunter surreal anmutenden Werke von Sabine Fassl eine Vielzahl an motivischen Zuweisungen und zivilisatorischen Themen in der Schnittmenge von unberührter Natur und wissenschaftlichem Fortschritt, populären Zukunftsvisionen und künftigen Lebenswelten berühren.
Der vordere Raum dient dem Arbeiten und Experimentieren, aber auch zum Zeigen – derzeit hängen hier großformatige Zeichnungen und Fotografien an der Wand –, der hintere hingegen ist die Werkstatt und in seiner genau organisierten Kleinteiligkeit ein bisschen eine Wunderkammer. So ist hier ein Teil des Werkes gelagert. In einem Regalsystem befinden sich die Objekte in eigenen Kisten, die Sabine Fassl auf den vorderen Flächen betitelt hat. Daneben lagern kleinere Kästen voller vorfabrizierter Formteile, häufig aus dem Baumarkt. Mit ihrer genormten Gleichheit und in serieller Anordnung bilden sie die Basis vieler Objekte, ja, sie vollziehen in diesen eine wundersame Metamorphose. Aus dem harten wie kalten Forminventar werden organisch fließende Abfolgen zwischen gelassener Ruhe und flimmernder Vitalität: Sabine Fassl erschafft wesenhafte Dingkonstellationen. Mitunter erinnern sie an Gewächse oder fremde Tiere mit Tentakeln oder mit einem riesigen Schlund: Mit solchen plastischen Werken, vorgetragen als Sockelstücke in moderaten Dimensionen und als raumgreifende Installationen im Innen- wie auch im Außenraum, wurde sie schon in den frühen 2000er-Jahren bekannt. Fassls Objekte erwecken die Vorstellung von Geschöpfen, die wir trotz deutlicher Verwandtschaften im Figürlichen nicht im vertrauten Lebensraum verorten, die etwa in der Tiefsee oder auf fremden Gestirnen leben könnten oder bei denen es sich um Mutationen infolge von Genmanipulationen handeln könnte. Peter Funken hat vor einigen Jahren von einem „fantastischen Bestiarium“ gesprochen (in: Kunst & Material, Mai/Juni 2013). Mitte der 2000er-Jahre traf das noch stärker – mimetischer – zu. Da hatte Sabine Fassl Materialien wie Kunststoff, Wachs und Perlen verwendet. Diese frühen Objekte sind umfangen von einem schwarzen Pelz oder besitzen eine fleischfarbene Haut. Kopf und Leib sind voneinander geschieden, sogar die Füße und Arme werden ausformuliert. Das Maß der Konstruktion bildet die Symmetrieachse. Mitunter wirken diese Geschöpfe in pflanzliche Zusammenhänge eingebunden, sind seltsam und unbedingt vorstellbar zugleich. „Ein Schuppentier mit Kringelschwanz, ein keimendes Ei, das in einer durchsichtigen Kugel schwebt, ein mausähnliches Geschöpf mit überproportional großen Flügelohren – dies sind drei der seltsam hybriden Fabelwesen, die Sabine Fassls Arbeiten bevölkern“, hat Annette Gentz geschrieben, und sie fasst zusammen: „Den idealisierten Bildern der Nachschlagewerke setzt sie eine Sammlung von unklassifizierbaren Einzelbeispielen, Anomalien und außergewöhnlichen Variationen entgegen, die sie mit größter Sorgfalt in all ihrer Komplexität erforscht.“ (Kat. Sabine Fassl, Goldrausch Künstlerinnenprojekt 2007) Dabei lassen sich den Objekten charakterliche Attribute zuordnen.
Bauprinzipien der Natur
Sabine Fassl packt im Atelier einige jüngere Arbeiten aus. Sie sind formal strenger und damit auch abstrakter. Die Normteile vermitteln eher eine Distanziertheit. Allenthalben dominiert eine fast technische Ordnung, die von den Prinzipien von Symmetrie und Zentrierung ausgeht. Und doch durchbricht Sabine Fassl diese Organisation immer wieder, sie baut Störelemente ein und setzt Büschel von Kunststoffbändern wie Gräser, die im Überlappen zu flirren beginnen, und verrückt stereometrische Elemente, die sich aufeinander beziehen. Bestimmend aber ist nun das Modul in seiner Repetition. Aber weist eine derartige geometrische Strenge nicht Parallelen zur Natur und zur Anatomie der Lebewesen auf der Erde auf? Zu denken wäre an die Wirbelsäule. An die versteinerten Knochengerüste urzeitlicher Tiere. Und an das Serielle der Facettenaugen von Insekten und an die zentrierte Anlage der Blütenblätter um einen Pflanzenstängel. Über die eigenen Erfahrungen und die von der Naturwissenschaft angeregten Formlösungen hinaus hat sich Sabine Fassl mit der Naturbeobachtung in der Kunst befasst. Natürlich kennt sie die Aquarelle der Maria Sibylla Merian und die biologischen Farbzeichnungen von Ernst Haeckel, die vor allem der Vermittlung der sensationellen Beschaffenheit der Natur dienten. Sabine Fassl nickt im Gespräch, ja, mit den fotografischen Naturstudien von Karl Blossfeldt setzt sie sich derzeit besonders auseinander: Diese arbeiten in ihrer ästhetischen Ausschließlichkeit die Erscheinung der Pflanzen als Architekturen und Wunder der Perfektion heraus.
Wie sehr Sabine Fassls eigenes Werk auf dem aufmerksamen Blick und dem eigenen Vorstellungsvermögen beruhen, bestätigen noch ihre aktuellen großformatigen Airbrush-Zeichnungen, die in ihrer Konzentriertheit im Laufe der Jahre ebenfalls begrifflich offener geworden sind und doch hinreichend konkret bleiben. In subtiler, dazu transparenter Buntfarbigkeit wölben sich im leeren Blatt Papier voluminöse Primärformen dem Betrachter entgegen. Übersät mit Blasen oder flimmernden Härchen, noch dazu im frontalen Gegenüber, ist diesen Körpern eine überwältigende Plastizität eigen – wie Vergrößerungen von isolierten Ansichten unterm Elektronenmikroskop. Die einzelnen geometrischen Binnenformen verschatten sich in ihrem Übereinander an den Rändern. Aus der Bildtiefe scheint gleichzeitig Helligkeit auf, welche noch die Präsenz steigert. In ihren Ausstellungen zeigt Sabine Fassl häufig diese Zeichnungen an der Wand hinter den Objekten und unterstreicht so deren motivische Zusammengehörigkeit. Überhaupt, sagt Sabine Fassl, verstehe sie auch die Objekte als Zeichnung. So berühren sich bei ihr die doch ganz verschiedenen Medien in der Klarheit der Formulierung, im scharf Definierten des Umrisses und in ihrer additiven Konstruktion zur wesenhaften Erscheinung, die selbst im kleinen Format monumental und damit beunruhigend, vielleicht sogar bedrohlich wirkt.
Interesse an der Skulptur
Sabine Fassl wurde 1973 in Hamburg geboren. Während eines einjährigen Aufenthaltes in Michigan kurz vor dem Abitur wird ihr schlagartig klar, dass ihr großes Interesse an den Naturwissenschaften weniger wissenschaftlich als vielmehr künstlerisch motiviert ist. Zunächst studiert sie Illustration an der Fachhochschule für Gestaltung in Hamburg. Zu ihren Motiven gehören die Pflanzen, sie zeichnet in naturkundlichen Museen und in botanischen Gärten. Die Intensität dieser Beschäftigung führt zum anschließenden Kunststudium an der Berliner Universität der Künste – der Kunstakademie in der Hauptstadt – , wo sie 2002 als Meisterschülerin bei Dieter Hacker abschließt. Parallel dazu hört sie an der Berliner Humboldt-Universität Vorlesungen zur Ur- und Frühgeschichte. Wichtig ist auch das Semester, das sie 2000–2001 an der dänischen Kunstakademie in Kopenhagen in den Bildhauerklassen belegt: Die dortigen Werkstätten, zu denen auch eine für Keramik gehört, bieten Sabine Fassl ganz unterschiedliche Materialerfahrungen, ja, einen Überblick und eine handwerkliche Versiertheit, die ihr heute ermöglichen, souverän auch mit den industriellen Ready-mades umzugehen. Die Einlassung auf verschiedene Werkstoffe aber wird noch in ihren jüngsten Objekten deutlich.
So hat Sabine Fassl 2012 ein hoch aufragendes pflanzliches Gebilde aus Lindenholz geschnitzt. Über einem kegelförmig sich verjüngenden Teil, bei dem mehrere Flächen wie Umhänge übereinanderliegen bzw. darunter Beine oder Füße vermuten lassen, ragt eine Form aus einzelnen rundum geschnitzten Zapfen auf und schließt an der Spitze weich, wie eine Kappe. Sie erinnert vielleicht an Glockenblumen, dann wieder denken wir an Pilze. An Beulen oder an Waben, an perlenden Tropfen sowieso. Die Skulptur scheint plötzlich zu Leben zu erwachen. Nichts, das uns ganz fremd wäre, erstaunlich aber ist die Intensität, die diese Skulptur in ihrer hier vorgetragenen Massigkeit besitzt. Hinzu kommt, dass Sabine Fassl sie mit leicht fluoreszierender Farbe lackiert hat. Daneben arbeitet sie mit Keramik oder Papier in bemerkenswerter Kunstfertigkeit; hinzu kommen Kunststoffe oder Metallteile, um die Natur zu kaschieren und gleichzeitig zu simulieren. Bei einem etwas kleineren Objekt aus dem Jahr 2011 (2.11.m_02) wächst zentriert über einer Auflagefläche ein Stab nach oben, auf dem eine Kugel mit rundum gleichmäßig angeordneten Stiften ruht. Während die Holzkugel und ihr Aufbau in Silber gefasst sind, sind diese Hohlstäbe messingfarben. Hier nun wirken sie wie Sensoren etwa an einem Satelliten oder andererseits wie Geschütze einer Drohne. Sabine Fassl hat Messinghülsen verwendet, die von Unterlegscheiben umfasst und dadurch als Form akzentuiert sind. Und obwohl die plastische Konstruktion wie ein archäologisches Fundstück im Museum präsentiert ist, ist ihr mit ihrem Innenleben nicht zu trauen, ihr scheinen (selbst-) zerstörerische Kräfte innezuwohnen. Andererseits, vielleicht handelt es sich um einen Seeigel oder doch nur um eine Trophäe nach einem sportlichen Erfolg. Dieses Objekt ist ein Ritt auf der Rasierklinge unseres reizüberfluteten Vorstellungsvermögens zu einer Zeit, in der die unterschiedlichsten wahren und unglaublichen, bestätigten und erfundenen Informationen aus dem Internet pausenlos auf uns einprasseln.
Wachstum im Raum
Die Arbeiten von Sabine Fassl erobern aber auch den Raum. 2013 war in der Galerie Gebuli in Baden-Baden ein Objekt zu sehen, bei dem sich steife (Abfluss-) Rohre über dem Boden wanden wie eine Schlange, wie wir es von der antiken Laokoongruppe kennen. Bei ihr aber befanden sich Kunststoffbänder an den Enden, die wie Schilf teils nach unten, teils nach oben zeigten und dabei Solarleuchten umfingen. Unterstützt durch das insgesamt dominierende Grün schien es, als würde sich die Natur ihren Raum allmählich erobern, und zwar in unbeirrbar bedächtigen Bewegungen. Wehe, man gerät in die Fänge dieses Polypen, der auch eine Spinne sein könnte oder sonst ein Tier, das nun auf dem Rücken liegt und seine Glieder von sich streckt – würden die Solarleuchten andererseits nicht an geöffnete Augen erinnern. Bilder aus der Naturbeobachtung, perspektivisch atemberaubende Ansichten technischer Apparaturen und Klischees aus der populären fantastischen (Comic-) Kultur kollidieren miteinander.
Die auf den Ausstellungsraum hin präsentierte Großskulptur ist zugleich ein Beispiel dafür, wie diese Werke mit ihrer verblüffenden Erscheinung narrative Impulse vermitteln und Emotionen zwischen Heiterkeit und Bedrohung initiieren. 2014 war Sabine Fassl an dem Projekt „Durch-Blicke“ auf der Inselfestung Wilhelmstein im Steinhuder Meer beteiligt. Jeder Künstlerin stand für ihre Arbeit ein eigenes Glashaus – ein Gewächshaus – zur Verfügung, das von allen Seiten einzusehen war. Dies und die Inselsituation suggerierten, hier würde etwas gezeigt, das vor den Menschen fernzuhalten sei, sich vielleicht auch nur in der Abgeschiedenheit entwickeln könne. Vor allem Sabine Fassl griff diesen Gedanken – ohnehin eines ihrer zentralen Themen – auf. Auf der Wiese, wenig vor dem gepflasterten Streifen am Wasser, ragte im luftdichten Gehäuse eine rosafarbene „Muschel“ über schwarzen Schläuchen auf. Ihre Haut wirkte wie dünnes Porzellan, wobei an den oberen Graten der gegeneinander gesetzten Halbkugeln weißer Pelz wie Schimmel verlief. Beängstigend, was sich hier unter Laborbedingungen fern der Zivilisation zusammenbraut! Sabine Fassl selbst hat im Katalog zu diesem Ausstellungsprojekt einen Zustand zwischen „Bakterienkulturen, überdimensionaler Züchtung oder pilzartigem Gebilde“ konstatiert als „parasitäre Raumbesetzung“, die „für den menschlichen Umgang mit der Natur steht“.
Farblich ist diese Arbeit übrigens die reinste Malerei. Als Objekt, das noch wächst, breitet sich die weiche organische Form massiv in der konstruktiven Glasarchitektur aus, die über jeden Schaueffekt hinaus Teil der Arbeit ist. Es trifft sich überhaupt mit ihren Lösungen der Unterbringung der kleineren Objekte in Vitrinen und auf Sockeln. Sabine Fassl hat damit – um wieder auf den Begriff zurückzukommen – ganze Wunderkammern aus Aufbauten zusammengestellt, die an Laborsituationen erinnern könnten und damit einerseits auf das Museale und Schützenswerte weisen, andererseits aber als Schutz vor den Objekten (oder deren Mikroorganismen) zu empfinden sind. Hinzuweisen wäre auch darauf, dass Sabine Fassl seit einigen Jahren eine weitere Ebene der Distanznahme vornimmt, die zugleich den Charakter des Dokumentarischen – und damit der naturwissenschaftlichen Anmutung – trägt: Sie fotografiert einzelne Ausstellungssituationen in Farbe und präsentiert sie in großformatigen Abzügen. Nun sehen wir erst recht die Dinge aus der geschützten Distanz und als faktische Vergangenheit, die in ihrer ganzen Unberührbarkeit auf die Zukunft weist. Überhaupt, in ihrem Werk verschränken sich die verschiedenen Zeiten und die Sphären von Natur und Technik hin zu oft humorvollen, aber vor allem kritischen Hinterfragungen unseres Umgangs mit den Ressourcen der Natur. Dass bei Sabine Fassl daraus ganz unglaubliche Wesen werden, die wie selbstverständlich aussehen und uns doch in Atem halten – umso besser.
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