Ein Streifzug durch die gegensätzliche
Kunstgeschichte des Quadrats
In der Klasse der privaten Kunstakademie Salzburg, die der 2014 viel zu frühverstorbene Maler Stephan Fritsch gründete, inspizierte vor ein paar Jahren Winfried Virnich die Ergebnisse seiner Studierenden. Der 1955 geborene Künstler, Professor für zeitgenössische Malerei in Mainz, betrachtete intensiv ein gestisches Gemälde und sinnierte über die Formatfindung: „Warum haben Sie das Quadrat gewählt?“ Pause. „Es ist die am schwierigsten zu beherrschende Fläche.“
Hoch- oder Querformate ließen sich dynamisch teilen. Der Sonderfall Quadrat, per Definition ein Rechteck mit vier gleich langen Seiten, deutet deswegen auf eine gespenstische Ruhe hin. Außerdem gibt es nur rechte Winkel. Das stellt still, was auf anderen Flächen in Bewegung gerät, denn die Orientierung drängt zum Zentrum. Da hat die forsche Geste ein Problem.
Die Geschichte der Kunst des Quadrats als Bildfläche, aber auch als dargestellter Gegenstand ist nicht sonderlich lang, lehrt aber spannende Probleme und Gegensätze. Meistens taucht diese Form in der Architektur auf, denn aufgrund ihres Regelmaßes besitzt sie eine hervorragende Eigenschaft: Sie lässt sich als Maß einsetzen. Vor allem aber bedeutet sie aufgrund der geometrischen Besonderheiten keineswegs nur sich selbst als Form. Das Quadrat ist neben dem Kreis hochgradig symbolisch aufgeladen. Ob im Klosterbau, als Zentralbau, in Form eines Baptisteriums, Mausoleums, als Kreuzgang oder im Festungsbau: Das Quadrat ist das Symbol der Erde. Die vier Ecken können die vier Himmelsrichtungen oder Weltteile bezeichnen. In der Natur kommt das Quadrat maximal bei speziellen Kristallbildungen vor, ansonsten ist es eine synthetische Leistung des Menschen.
Im Barock der Stadtplanung etwa entstand die „Quadratestadt“, nämlich Mannheim. Sie besteht aus 144 Segmenten, unter denen aber kaum ein echtes Quadrat dabei ist. Immer geht es um Verhältnisse.
Leonardo (1452– 1519) schuf den „homo ad circulum et quadratum“, einen idealen Schönling, der in Quadrat und Kreis eingeschrieben ist. Vorlage bot die Theorie des antiken Architekten und Theoretikers Vitruv (80– 15 v. Chr.). Er schrieb über das Idealmaß für die Baukunst den Menschen ins Quadrat ein. Übrigens taucht es selbst in technischen Bildmedien wieder auf: Mit der weltberühmten Rolleiflex aus den 1930er-Jahren, einer zweiäugigen Spiegelreflexkamera, verbreitete sich das sechs mal sechs Zentimeter große Negativ, das bis heute vor allem in der gewerblichen Fotografie, wenn auch digital, Anwendung findet. Berühmte Fotografen, etwa Alfred Eisenstadt, Robert Capa, aber auch Vivien Mayer und Diane Arbus benutzten sie. Hier schien es nicht so problematisch zu sein, das Quadrat mit den Eindrücken der Umwelt zu belichten. Aber Malen und Fotografieren sind eben auch zwei Paar Schuhe.
Die eigentliche Zeit dieser Form beginnt im 20. Jahrhundert mit Kasimir Malewitsch (1878–1935). Mit seinem „Schwarzen Quadrat“, das er noch ganz traditionell auf einen weißen Grund malte, schuf er 1914/15 das erste programmatisch ungegenständliche Bild der Kunstgeschichte. Was danach in Gang kam, veränderte alles. Seine Kunst nannte der russische Künstler-Philosoph „suprematistisch“, darunter verstand er „die Suprematie der Empfindung in der bildenden Kunst“. Widersprüchlich mutet der Anfangssatz des zweiten Kapitels seines Bauhausbuchs „Die gegenstandslose Welt“ (1927) an. Die Welt der Gegenstände sei bedeutungslos, wesentlich dagegen die Empfindung. Das ist die erste Klärung der Verhältnisse, die alles an Wörter Gebundene über Bord zu werfen gedachte. Die Folgen waren gewaltig. Zusammen mit Marcel Duchamp erschütterte er die herrschende Vorstellung der Kunst: einerseits so konzentriert reduziert, andererseits in Form von Readymades in den Alltag expandierend.
Stand bei Malewitsch die Empfindung im Zentrum, bildeten sich mit Piet Mondrian (1872–1944) und Theo van Doesburg (1883–1931) zwei Antipoden, die visuell ähnliche Bilder malten, jedoch etwas kategorial anderes mit ihren Grundformen meinten. Denn während Mondrian der gegenständlichen Welt treu blieb und hinter seinen abstrahierenden Bildern den Puls der reinen Harmonie schlagen hörte, erfand Doesburg die „konkrete Kunst“. Er definierte sie als Ungegenständlichkeit, die keine Äquivalente außerhalb ihrer selbst habe: keine Empfindung, keine Harmonie, außer diejenige zwischen den Formen. Nichts als sich selbst zu bedeuten, war der radikalste Schritt, nachdem Malewitsch die Pforten zu einer „reinen Malerei“ aufgestoßen hatte.
Josef Albers (1888–1976) brachte die konkrete Kunst dann in ein festes Gefüge. Und mit ihm hielt auch ein pädagogischer Aspekt Einzug in die Kunstgeschichte. Kein Wunder, lehrte der gebürtige Bottroper doch am Bauhaus. Mit seinen „Homages to the square“ schuf er eine riesige Reihe von stets gleichartigen Gemälden, in denen der Künstler seine Farbtheorie von den Interaktionen der Farbe sichtbar machte. Die Malfläche ist quadratisch. Darauf befinden sich eine Reihe ineinander geschachtelter quadratischer Flächen. Da sie in unterschiedlichen Farbkombinationen realisiert sind, ergeben sich mit jedem Bild neue Eindrücke und Wechselwirkungen. Apropos Bottrop: Die Heimatstadt von Albers widmete ihrem berühmten Sohn gar ein Museum, das – wen wundert’s – „Josef Albers Museum – Quadrat Bottrop“ heißt. Der große Ausstellungsteil des lichtdurchfluteten Gebäudes besitzt natürlich einen modular aufgebauten, quadratischen Grundriss. Dort kann man eine große Anzahl von Arbeiten des Künstlers betrachten und miteinander vergleichen. Das lehrt sehen.
Die Kunstmäzenin Marli Hoppe-Ritter ist Museumsgründerin. Und ihr Haus, das Museum Ritter in Waldenbuch im Regierungsbezirk Stuttgart, ist gleichermaßen auf quadratischem Grundriss errichtet, streng rational entworfen vom Schweizer Max Dudler. Da gibt es einen direkten Bezug zur familieneigenen Firma. Deren Hauptprodukt, eine Schokolade, ist dieser Form verpflichtet. Das Haus sei selbst eine „Homage to the square“, heißt es. Das 20. Jahrhundert produzierte Kunstwerke en masse und in jeder nur denkbaren Variation. Es wäre zu mühsam, alle Namen aufzählen zu wollen. Denn in beinahe jeder Art ungegenständlicher Kunst, sei es nun Konstruktivismus, konkrete Kunst oder Minimal Art, ist das Quadrat zu finden: ob es die späten Bilder von Ad Reinhardt (1913–1967) sind, deren zarter Pigmentauftrag so empfindlich wie ein Schmetterlingsflügel ist, oder, robuster, in objekthaften Bildern von Imi Knoebel, Jahrgang 1940, oder sinnlich wie in den poetischen Blütenpolleninstallationen des 1950 geborenen Wolfgang Laib.
Das Quadrat reizt Künstler stets, die wissenschaftliche Dimension ihres Tuns auszuloten. Hans Jörg Glattfelder, Jahrgang 1939, arbeitet an einer Kunstrichtung, die er als „methodischen Konstruktivismus“ bezeichnet. Der 1939 in Zürich geborene Künstler verfolgt einen besonderen Ansatz: Bezüge zwischen den Wissenschaften und der Kunst neu zu beleben. Es sei eine Chance, den seit der Renaissance eingeschlafenen Dialog zwischen Wissenschaften und bildender Kunst auf der Ebene der wechselseitigen Offenlegung und dem Vergleich der Methoden neue Impulse zu geben. Seine „Herbe Triangulation“ (1983) ist nur ein gedachtes Quadrat, das sich aus unsichtbaren Dreiecken zusammensetzt und eine gewölbt-gebogene Fläche in virtueller Dreidimensionalität beschreibt. Das Rechnen, die Mathematik und das Quadrat bilden in der Kunst eine Familie. Neben Glattfelder steht für diese Verwandtschaft auch das Werk der Kölner Künstlerin Rune Mields, Jahrgang 1935. Spuren finden sich bereits bei Albrecht Dürer (1471–1528), dem „Apelles der schwarzen Linien“. Seine weltberühmte „Melencolia I“ zeigt ein magisches Quadrat. Im rechten Bildmittelgrund steht ein Turm, vor dem die personifizierte Melancholie sitzt. An dessen Wand ist eins dieser faszinierenden mathematischen Spiele abgebildet. Die Zahl 34 ist die Summe aller Reihen, Spalten, Diagonalen, Quadranten und der Ecken. Darin enthalten ist die Zahl 1514, das Entstehungsjahr und Todesjahr der Mutter. Neben diesen Bezügen gilt das vielfach symmetrische Gebilde gleichermaßen als Aufforderung zum exakten Messen. Also ist das Quadrat kompositorisch eine Herausforderung, intellektuell ein Quell des Denkvergnügens und symbolisch so erdverbunden. Magisch ist es in jeder Hinsicht: Jürgen Mottok, Professor der Informatik an der ostbayerischen Technischen Hochschule, Regensburg, schwärmt beim Gedanken ans Quadrat: „Diese Form ist die Pforte zur mythischen Vollkommenheit des Kreises. Die Quadratur des Kreises ist ein uraltes Verfahren der Annäherung, und selbst Computer sind nicht in der Lage, einen reinen Kreis darzustellen. Immer sind es Annäherungen mit den Treppchen eines Vielecks.“
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