Die blinden Augen eingeschlagener Fenster erzählen vom Verlassensein. Davon etwa, dass ein Haus schon längere Zeit nicht mehr bewohnt und sich selbst überlassen ist. Das Paradies, genannt Natur, kommt zurück. Aber Moment – schauen wir genauer hin und tun, wozu uns der Maler anregt.
Der Maler: Während das Voranschreiten der Technik die Welt und auch uns immer schneller und weiter verändert, Sinne und Sinnlichkeit verunsichern und neu justieren will, gehört Willem Julius Müller zu jenen Bildnern, die am Handwerk der alten und oft schon totgesagten Kunst der Tafelmalerei festhalten – als Poet der Bilder, der die Welt im Licht der Farben erkundet, und als Abenteurer, dessen Exkursionen inmitten unserer Zivilisation jene Spuren menschlichen Tuns suchen, die dem Verfall anheimgegeben sind. Häuser, Bungalows, Hallen, Zweckbauten, futuristische Gebäude, sogar einen Vergnügungspark, in dem alles zusammenzukrachen droht. Willem Julius Müller findet sie überall: mitten in den Städten, an ihren Rändern, auf dem Land.
Die Idee: Architekturen als Metaphern für Eingriffe in die Natur, deren Verdrängung und schleichende Zerstörung. Architekturen so stolz, modern und stark sie einmal waren, noch ahnt man es, dann versehrt, befleckt, ruinös im Prozess des Verfalls geschwächt und nun der vitalen Kraft der Natur, deren Blätter- und Blütenpracht, Tieren, Mikroben, Geflechten, dem Wechsel der Jahreszeiten, Kälte und Wärme, Feuchtigkeit und Trockenheit ausgesetzt und unterlegen. Die wandelnde Gewichtung der Kräfte von Mensch und Natur bildnerisch zu erkunden, mittels der Farbe in ungezählten landschaftlichen Stimmungsfacetten auszuleuchten, ist offenbar Müllers Anliegen.
Vor dem Hintergrund dieser ambitionierten Idee geht der Maler hinaus ins Freie, erkundet sein Umfeld. Das gefundene Stück morbid-vitaler Landschaft ist die Veranlassung seiner Malerei. Keine erdachten, sondern dem Realen entnommene Orte speisen seine Bildideen.
Die anfängliche Überlegung, jene da ausgemachten, vom Zerfall gezeichneten Bauten seien sich selbst überlassen, ist nur halb richtig. Gleichzeitig sind sie der Natur überlassen, die sich nach ihrem Gesetz und Verlangen nimmt und sich ganz im physischen Sinne anverwandelt, was ihr einst abverlangt wurde. Das weiß man zwar, aber Müller führt es uns gefärbt durch seinen Blick neu vor Augen.
Was ist dieses Neue, Abgewandelte, typisch Müller’sche? Klar ist, dass er mitnichten vor der Natur abmalt, auch nicht das Atmosphärische einer realen Landschaft auf der Leinwand feiert, wie es etwa die Pointillisten und Impressionisten in der Malerei Ende des 19. Jahrhunderts zur Blüte brachten; es sind weder Seelenlandschaften der Melancholie noch ästhetische Momente jener Schönheit, die noch und vielleicht gerade im Verwittern und Verfallen in den Ruinen einstiger Prachtbauten zutage treten.
Das malerisch Geschlossene täuscht nicht über den Kampf der Gegensätzlichkeiten hinweg.
Die verlassenen Gebäude seiner Bilder, nicht annähernd so alt wie jene, deren Ruinen ihn vor Jahren in Sizilien beeindruckten, sind nach unserem Geschmacksempfinden hässlich. Plattenbauten wie Bungalow, (Kauf)-Halle oder Wohnblock aus dem 20. Jahrhundert sind auf klare geometrische Formen angelegt wie etwa seine kleine, jüngst geschaffene Malerei „Bauhaus“. Dieser wohl gewählte Titel muss als Hinweis auf Segen und Fluch der Bauhaus-Bewegung vor einhundert Jahren verstanden werden: rechte Winkel, glatte Flächen, steril anmutendes industrielles Baumaterial. Diese Art von Reinheit und Strenge findet eben darin ihre ästhetische Qualität. Natürliche Veränderungen, die mit der Zeit unweigerlich eintreten, sind unkontrolliert und organisch und konterkarieren damit die Geometrie mathematischer Formen. Im Bewusstsein dieser Verwandlungen setzt der Maler seine Farben. Weich und natürlicher Bewegung, eigener Gesetzlichkeit folgend, schafft er eigene, dem Realen entlehnte Bilder. Das malerisch Geschlossene täuscht aber nicht über den Kampf der Gegensätzlichkeiten hinweg.
Noch sind die künstlichen „Gebilde“ in ihrer Versehrtheit sehr gut erkennbar. „Botschaft“ nennt Müller ein anderes seiner unverkennbaren Werke. Der Titel suggeriert ein Verwaltungsgebäude, das Bild ein nicht mehr genutztes Bauwerk im, nun ja, modernen Stil in offenbar vollkommener Verwahrlosung. Deprimierend. Eigentlich. Die ehemals weiße Außenwand ist fleckig, Fenster sind zerschlagen, Gegenstände der Innenausstattung achtlos nach draußen geworfen, ein alter Teppich vorn rechts hängt über einem rostigen Geländer, einem übrig gebliebenen Stück Zaun oder einem Mauerstück? Man ahnt den Schmutz, muffigen Geruch. Aber dann das frische Grün, wie es sich ausbreitet als bekäme es neue Nahrung, neuen Raum; das Lebendige nimmt Besitz vom Leblosen. Müllers Material, Ölfarbe und Leinwand, ist in seiner Stofflichkeit nicht reproduzierbar, und so kann man mit der Abbildung auf dem Papier oder dem Bildschirm nur ahnen, wie treffend er in diesem Bild emotionale Ambivalenzen, Tristesse und Heiterkeit erfahrbar macht. Aber da ist noch etwas anderes. Ein ungutes Gefühl. Der Maler arbeitet mit einer Überhöhung der Farben. Leuchtendes Blau, grelles Pink, Giftgrün erzeugen eine künstliche, surreale und feindlich anmutende Stimmung. Die ehemals vorgefundene reale Situation bekommt im Bild eine weitere Dimension: Eine Entrückung in den Bereich der Bühne.
Ohne menschliche Figuren. Ob sie noch einmal zurückkommen? Warten auf Godot? Nicht in Müllers Bild. Darsteller gibt es aber. Es sind der Zerfall der baulichen Artefakte und die Erstarkung der Natur. Den Namen des Stückes kennen wir: Botschaft.
Ein anderes „Stück“ nennt er „Paradise lost“. Das Apokalyptische dieser Szenerie, als sei sie einer fremd-unnatürlichen, gleißenden Beleuchtung ausgesetzt, erinnert auch hier an eine Theaterbühne, auf der Geschichten dargestellt werden. Wir werden zum Zuschauer. Es ist ebenfalls eine Erzählung vom Wechsel. Eine fröhlich getupfte Flussfahrt verliert ihre Heiterkeit sofort angesichts der gebeugten Baumriesen am Ufer vor der Himmelsglut rätselhafter feuerroter Schweife. Wir ahnen, das schrille Licht, gefährlich anmutende Nebel bedeuten eine Katastrophe am einst idealen Ort. Es ist ein besonderes Bild im Œuvre des Malers, denn hier wird die Natur in ihrer Ohnmacht erinnert. Anders als in Müllers menschleeren Landschaften, in denen sie erstarkt und sich zurückholt, was ihr einst entrissen wurde, ist sie nun über ihre Maße hinaus geschwächt.
Kein Mensch wird Maler, wenn er nicht die Farbe liebt.
Müllers Malerei hat aber noch andere Aspekte, von denen hier unbedingt dieser eine genannt werden muss: Kein Mensch wird Maler, wenn er nicht die Farbe liebt. Sizilien mit der Leuchtkraft der Farben muss so etwas wie ein Erweckungserlebnis gewesen sein. Eine Leidenschaft ist augenscheinlich, wenn man auf sein Œuvre schaut. Die Überhöhung der Farbe ist sicher auch Lust am unendlichen Experiment, sinnliche Freude an der Wirkkraft, den Möglichkeiten der Kontraste, der Farbnachbarschaften, der Erzeugung von Stimmungen. Und da ist es interessant, dass er in die gegenständliche Malerei gewechselt ist, nachdem er bei Frank Badur an der Universität der Künste mit der abstrakten Malerei begonnen hatte. Er fand heraus, dass er nach Bildern suchte, danach, wie er eine dem Realen entlehnte Form auf die Leinwand bringen könnte. In seinem Werk vereint er nun beides: Farbe und Gegenstand. Und um die Farbe darin weiterhin erforschen zu können, schuf er zum Beispiel seine weißen Bilder, in denen er nun ein sehr schmales Spektrum in feinen Nuancen auslotet. Sein „Sommerhaus“ aus dem Jahr 2016 ist der oben beschriebenen Idee geschuldet, ein erkennbarer Müller im Duktus und in der Gegenläufigkeit seiner „Protagonisten“. Das Sommerhaus im Schnee lässt doppelt frieren, denn nicht allein die winterlichen Farben, auch die doppelte Verlassenheit – die Bewohner scheinen das Häuschen nicht nur im Winter, sondern ganz und gar verlassen zu haben.
Aber – und da liegen Kunst und Kraft der Malerei – noch in dieser kalt-bleiernen Suggestion kann das andere, eben jene fein nuancierte Farbigkeit das Auge erfreuen.
Das als unzeitgemäß Empfundene der Malerei, einer der ältesten bildhaften Ausdrucksweisen überhaupt, wird von bildschaffenden Denkern wie Willem Julius Müller überzeugend und eindrucksvoll umgewandelt in etwas, das wir offenbar unbedingt brauchen. Als Gegenüberstellung vielleicht zu den maschinen-elektronischen blitzschnellen Abläufen, dem Vorbeirasen der Bilder: Es sind die Haptik des Materials, Verweilen, Kontemplation und Versenkung, um Sinne und Sinnlichkeit zu bewahren und um zum eigenen Gedanken (zurück)-zufinden.
Der Anachronismus Tafelmalerei wird – man könnte es neudeutsch sagen – Biokost für die Seele; das Licht der Farben in Müllers Bildern oszilliert in unserem Blick auf „Into the wild“ oder „Silver lining“ oder „Silent lake“ im Jahr 2017.
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